
01.04.24
Literatur
Auf literarischer Spurensuche
In ihrem Debütroman erzählt Özlem Çimen vom Verlieren und Wiederfinden von Identität.
Anna Chudozilov (Text) und Ayse Yavas (Bild)
Für viele Schweizer:innen mit Migrationsgeschichte gehörte die Reise in die Heimat der Eltern zu den Sommern ihrer Kindheit. Farbenfroh und detailreich erinnert sich die Erzählerin Özlem in «Babas Schweigen» an heisse Tage im Dorf ihrer Grosseltern, die sie in der ostanatolischen Provinz Tunceli verbringt. Sie erzählt von prächtigen Aprikosenbäumen, von Fladenbrot und Joghurtsuppe, vom Kaffeesatzlesen und vom Baden im Fluss.
Die Erzählerin teilt mit der Autorin nicht nur den Vornamen, sondern auch zentrale biografische Eckdaten. Özlem Çimen ist, wie ihre Protagonistin, in der Zentralschweiz aufgewachsen als Tochter von Gastarbeiter:innen aus der Türkei. Während Erzählerin und Autorin in der Schweiz den Stempel «Türkin» aufgedrückt bekommen, entdecken sie als Erwachsene, dass ihre Identität sehr viel komplexer ist.
Özlem Çimen wirft wichtige Fragen danach auf, wie es uns prägt, Nachfahren von Tätern zu sein, Kinder von Opfern – wie es sein kann, dass wir beides gleichzeitig sind.
Drei Sommer im Dorf
Von der Konstruktion dieser Identität handelt der Debütroman der in Luzern geborenen Autorin Özlem Çimen. In knapp zwei Dutzend Kapiteln berichtet ihre Erzählerin von drei Sommern. 1990 erlebt sie ihre letzten Kindertage in Ostanatolien. Diese sind geprägt durch viel Freiheit, die sie zusammen mit ihren Cousinen und Cousins auskostet. Manche wachsen im Dorf der Grosseltern auf, andere im fernen Istanbul oder in der Schweiz. In jenem Sommer ziehen sie gemeinsam durch die Gegend und lauschen abends den Geschichten der Grosseltern. 2013 kehrt die Erzählerin schwanger und in Begleitung ihres Mannes in das Dorf zurück, will dem Schweizer Partner ihre Wurzeln zeigen. Doch in die Erinnerungen an glückliche Kindertage bricht plötzlich die Erkenntnis, dass ihre Familiengeschichte komplizierter ist als gedacht. Weitere zehn Jahre später ist jener Teil der Geschichte angesiedelt, in dem die Erzählerin das Schweigen ihres Vaters – des titelgebenden Baba –
zu brechen versucht.
Die Protagonistin realisiert im Verlauf der Erzählung, dass sie nicht einfach Türkin ist. Ihre Vorfahren haben der kurdischen Minderheit der Zaza angehört, die unter dem enormen, auch gewaltvollen Assimilationsdruck der Türkei standen – und bis heute stehen. Gleichzeitig wird ihr bewusst, dass die Geschichte ihrer Familie mit dem Völkermord an den Armenier:innen verbunden ist, einem der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts. In einem schmerzhaften Prozess setzt sie sich mit dem historischen Grauen und der Rolle ihrer Familie auseinander.
Was es freizulegen gäbe
Özlem Çimen wirft wichtige Fragen danach auf, wie es uns prägt, Nachfahren von Tätern zu sein, Kinder von Opfern – wie es sein kann, dass wir beides gleichzeitig sind. Sie erzählt in einer schnörkellosen Sprache, verliert sich zwischendurch auch mal auf Nebenschauplätzen. Ausgeblendet wird allerdings, wie die Erzählerin durch die Emigration der Eltern in die Schweiz geprägt worden ist, wie die Suche nach Identität durch ihre Sozialisierung beeinflusst wurde. Wie ein riesiger Elefant steht im Raum, welchem Druck die Familie hierzulande ausgesetzt war, welche Geschichten es hier freizulegen gäbe. Fast schon stur scheint die Weigerung, sich nicht nur als Zaza, sondern auch als Schweizerin zu zeigen. Vielleicht braucht es für die Reflexion dieser Komponente der Identität weitere zehn Jahre Abstand, vielleicht ein weiteres Buch.
Das Buch «Babas Schweigen» von Özlem Çimen ist im März 2024 beim Limmat Verlag erschienen.
Für diesen Beitrag haben mitgewirkt:

Anna Chudozilov
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