09.11.23
Den Rollkoffern auf der Spur
In präzisen Rhythmen die Welt erzählen: Corina Schwingruber Ilić dokumentiert in ihren Kurzfilmen den kommerziellen Tourismus.
Alice Galizia (Text) und Sara Furrer (Bilder)
Könnte schon sein, dass wir das alles der Ungeduld zu verdanken haben, Corina Schwingruber Ilićs Ungeduld, oder umgekehrt ihrer Lust, einfach zack bumm etwas zu machen. Einen Kurzfilm zum Beispiel. Weil Langfilme oft langweilig sind, oder einfach zu lang – und weil es schade ist, sich ihnen zuzuwenden, nur weil sie angesehener sind als kurze. «Wenn ich einen Langfilm schaue, denke ich oft, man hätte das runterkürzen können. Es geht mir aber nicht darum, die beiden Formen gegenein- ander auszuspielen.» Wozu auch. Und mit der Ungeduld ist es sowieso komplizierter.
Für den Videocall sitzt Schwingruber Ilić in ihrem Zuhause in Belgrad auf der Terrasse, um etwas Sonne abzubekommen an einem dieser schönen Herbsttage. Belgrad, einer von zwei Orten, die sie Zuhause nennt. Das andere ist in Luzern, in beiden wohnt sie mit ihrem Mann Nikola Ilić, den man im Hintergrund herumgehen sieht. Mit ihm teilt sie sich das Leben und damit auch die Arbeit: das Hin und Her mit zwei Haushalten und Kindern und dazwischen immer der Film. Bei ihren Projekten kümmert er sich um die Kamera, sie sich bei seinen um den Schnitt. Doch eine Symbiose ist nicht immer von Beginn an gegeben und manchmal hart erarbeitet, in diesem Fall ganz sicher. Das erste gemeinsame Projekt war schwierig und holprig: «Wir haben Co-Regie gemacht, beide an der Kamera, und uns nur gestritten. ‹Jetzt film das hier› – ‹nein, das›, und so weiter, am Schluss mussten wir uns aufteilen. Jemand hat den Morgen übernommen und jemand den Nachmittag.»
STRENGSEIN ALS LUXUS
Das sieht man dem Film nicht an. «Kod Ćoška» (2013) ist ein Kurzdokumentarfilm über einen Kiosk irgendwo in der zentralserbischen Provinz, wo eine Gruppe Männer aus dem Dorf, Arbeitslose, Pensionierte, ihre Tage rumbringen, beim Essen, Spielen, Tratschen, Biertrinken, bei all den Sorgen. Ein Schlaglicht auf eine Gemeinschaft, die sich so ihr Leben teilt. Es wird viel gelacht vor dem Kiosk, gesungen ebenso.
Zwei Jahre später führte sie ein Stipendium nach Kairo, wo «Just Another Day in Egypt» (2015) entstand. Die beiden Projekte, die sie eigentlich einzeln realisieren wollten, waren sich am Ende durch die Restriktionen und damit auch die künstlerischen Einschränkungen thematisch so nah, dass sie sich doch zur Zusammenarbeit entschieden. «Als Frau bin ich auf der Strasse beim Filmen stärker aufgefallen als Nikola. Ich habe deswegen angefangen, daheim das Schneiden zu übernehmen.» Ansonsten sei das Geschlecht weniger ein Thema, sie sei Teil einer neuen Generation, sagt Corina Schwingruber Ilić, die von der Frauenförderung auch schon profitieren konnte. «Es ist immer noch so, dass Frauen im Film zu kurz kommen, vor allem im Bereich Fiction. Ich hatte einfach bisher das Glück, das nicht so zu spüren zu bekommen. Und weil ich Kurzfilme mache, werde ich immer noch als jung wahrgenommen, obwohl ich schon über vierzig bin», sagt sie und lacht. Abgesehen davon sei es gerade im Bereich Dokumentarfilm manchmal ganz praktisch, eine Frau zu sein. «Was mich sonst im Leben unendlich ärgert, wird hier zum Vorteil: Die Leute wollen mir ihr Zeug erklären.»
Das mit der funktionierenden Arbeitsteilung hat sich nach und nach ergeben. Mittlerweile denke sie manchmal, es müsste auch nicht alles immer geteilt werden, auch wegen der harschen Umgangsformen zwischen ihnen. «Wobei, es ist schon sehr gut, dass ich einfach sagen kann, wenn ich etwas scheisse finde. Und Nikola auch. Es ist ein Luxus, dass wir so streng zueinander sein können.»
«Wobei, es ist schon sehr gut, dass ich einfach sagen kann, wenn ich etwas scheisse finde. Und Nikola auch. Es ist ein Luxus, dass wir so streng zueinander sein können.»
FLIEGENDE SERVIETTEN
Keine Konkurrenzgedanken? «Überhaupt nicht», meint Corina Schwingruber Ilić, die, wie in vielen anderen Belangen, auch hier bemerkenswert entspannt wirkt. «Ich habe keine Lust auf Social Media und bin nirgends angemeldet. Nikola schon. Da haben die Leute manchmal Mitleid mit mir, weil sie denken, ich stünde in seinem Schatten. Aber das ist im echten Leben ja nicht so.» Tatsächlich ist Schwingruber Ilić mit ihrem Schaffen sehr erfolgreich, was im Bereich des Kurzfilms in der Schweiz unter anderem heisst, mit nur ein wenig Zustupf aus Jobs im Filmbereich davon leben zu können. Zu verdanken ist dies nicht nur, aber auch «All Inclusive» (2021), einem Kurzdokumentarfilm über Kreuzfahrten.
Es ist ein sonderbarer Alltag in dieser abgekapselten Ferienwelt: Alles ist ständig in Bewegung, es blinkt und leuchtet und wummert. Junge Pärchen lassen sich vor dem Sonnenuntergang fotografieren, im Speisesaal wirbeln die weissen Stoffservietten synchron in der Luft, auf Deck wird gesoffen, getanzt, gekreischt. Abends reihen sich alle in die Polonaise ein, und am nächsten Tag messen sich dicke Männer darin, wer im Schwimmbecken den besten Plätteler hinkriegt. «Ich habe es wirklich sehr bereut», sagt Schwingruber Ilić, diesen Aufenthalt auf dem Kreuzfahrtschiff, wo sie diese Szenen einfing. Im Film reihen sie sich unkommentiert aneinander und lassen doch ein Gesamtbild aufscheinen. Durch geschickte Montage ist «All Inclusive» ausserdem auch lustig. Und wenn Schwingruber Ilić jetzt vielleicht ein wenig kokett meint, das sei schlimm gewesen – gelohnt hat es sich auf jeden Fall: Der Film lief an über 250 Festivals, in Toronto, Venedig oder am Sundance, und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. «Es ist schon komisch: zu wissen, jetzt habe ich den Peak wahrscheinlich schon erreicht.»
HELDIN BLEIBEN
Auf jeden Fall wolle sie sich keinen Druck machen, und Ideen gebe es sowieso genug. Trotzdem waren die Erwartungen, vor allem von aussen, an den nächsten Film hoch, gerade weil er sich thematisch im selben Feld wie «All Inclusive» bewegt. «Ich habe mir ganz viele Regeln auferlegt, um sicher kein ‹All Inclusive 2› zu machen, aber der Vergleich ist natürlich auch so naheliegend.»
Der Kurzdokumentarfilm «Been There» (2023) spielt an den touristischen Hotspots dieser Welt, zwischen Fotografierenden, Posierenden, Rollkofferziehenden. Auch hier ohne mündlichen Kommentar dokumentiert Corina Schwingruber Ilić den gar nicht so individuellen Individualtourismus. Während «All Inclusive» zwar kritisch ist, es einem aber auch leicht macht, sich zu distanzieren, fällt es bei «Been There» schwerer, sich nicht als Teil eines zumindest potenziellen Problems zu sehen. Keine Fortsetzung, aber eine Ergänzung. «Been There» wurde am diesjährigen Locarno Film Festival ausgezeichnet und als Kandidat für den Europäischen Filmpreis nominiert, der Anfang Dezember in Berlin verliehen wird.
Auch hier fällt ihr präzises Rhythmusgefühl auf, die Freude an speziell gewählten Aufnahmen, die sie gezielt benutzt, um gescheite Beobachtungen anzustellen. Solche Überlegungen seien für die Wahl eines neuen Projekts absolut zentral. «Ich muss ein Thema auf der visuellen Ebene erzählen können, nicht nur auf der inhaltlichen, sonst wäre es besser, als Form zum Beispiel einen Text zu wählen. Dokumentarfilme, in denen man einfach ein paar Leuten die Kamera ins Gesicht hält – das ist für mich keine künstlerische Herangehensweise. Ausser, es ist ein klares Konzept.»
Gar nicht so einfach war das bei der Arbeit an ihrem einzigen Langfilm, der vor allem auf der emotionalen Ebene erzählt werden wollte und für den sie gemeinsam mit Nikola Ilić nach einer passenden Bildsprache suchen musste. «Dida» (2021) nimmt Nikola Ilićs Mutter zur Hauptfigur, die lernbehindert ist und bei ihrer Mutter in Belgrad wohnt, bis diese stirbt. Hier fliesst das gemeinsame Leben und Arbeiten zwischen zwei Welten noch stärker zusammen als ohnehin schon, rückt die eigene Familiengeschichte in den Fokus: wie anstrengend es sein kann innerhalb einer binationalen Familie, mit dem Hin und Her, der Sorgearbeit – also immer Abschiednehmen, immer Ankommen. Ganz behutsam wird ein kleiner Kosmos entfaltet, dabei sorgfältig umgegangen mit der Mutter Dida und ihrer Geschichte. «Sie sollte immer Heldin bleiben, das war das Wichtigste», sagt Schwingruber Ilić. Auch hier reichen 78 Minuten, um eine eigentlich grosse Geschichte zu erzählen. Und mit Ungeduld hat das rein gar nichts zu tun.