14.09.23
Der Mann mit dem langen Atem
Früher war Eugen Scheuch in der Boa anzutreffen, heute bookt er Konzerte für die Usine in Genf. Wer Eugen kennt, weiss, dass das, was er tut, stets der Alternativkultur verpflichtet ist.
Anja Nora Schulthess (Text) und Sara Furrer (Bilder)
Als ich vor gut drei Jahren aus Zürich nach Luzern zog, kannte ich eine Handvoll Personen, das Neubad, den Sedel und den Südpol, den Mullbau und das KKL natürlich. Mehr nicht. Irgendwann kam mir zu Ohren, dass es einmal eine Boa in Luzern gab. Dass dies eine grosse Sache gewesen sein musste, merkte ich schon daran, wie man da und dort in Bars und an Konzerten darüber sprach. Wehmütig, stets mit dem bezeichnenden Nebensatz, dass da nichts Vergleichbares mehr gekommen sei und auch nicht mehr kommen würde.
DER KOPF DER BOA
Keiner wird so stark mit der Boa – jenem legendären Kulturzentrum, das von 1989 bis 2007 das Luzerner Industriequartier prägte – in Verbindung gebracht wie Eugen Scheuch. Der wortkarge Mann mit den langen Haaren und der farbigen Windjacke, die aus den 1990er-Jahren stammen muss, war seit meiner Ankunft in Luzern überall anzutreffen. Unsere Wege kreuzten sich beinahe täglich. Irgendwann grüssten wir uns. Bis wir zum ersten Mal miteinander sprachen, vergingen knapp zwei Jahre, was bezeichnend ist für Eugen, der lieber zuhört als spricht und einfach macht, ohne dies an die grosse Glocke zu hängen.
Wie das sei, als Kopf der Boa zu gelten, frage ich Eugen, als wir uns auf einer Terrasse in der Neustadt mit Blick auf den Pilatus treffen. «Ich bin vermutlich am meisten in der Öffentlichkeit wahrgenommen worden, da ich sieben Jahre lang für das Musikprogramm zuständig war», erinnert sich Eugen. «Wir waren ein Kollektiv, etwa 20 Leute, mit gleichen Löhnen für alle.» Die Erwähnung der Einheitslöhne verweist schon auf den politischen Aspekt. «Die Boa war eben nicht nur ein Veranstaltungsort, sondern ein linksalternatives Haus, das sich dezidiert positionierte und für viele Leute eine kulturelle ebenso wie eine politische Heimat war.»
Die Boa war ein Kind der bewegten 1980er-Jahre. In dieser Zeit entstanden die Reitschule in Bern, die Rote Fabrik in Zürich und die Usine in Genf, wo Eugen Scheuch seit bald einem Jahr arbeitet. In die Branche sei er eher zufällig gerutscht. Alles habe mit einer Besetzung am Kauffmannweg angefangen, wo er damals wohnte. «Wir haben Konzerte veranstaltet oder mit der politischen Gruppierung ‹Phase 1› Demos organisiert.» Wichtige Themen gab es damals viele. Aktuell waren etwa globalisierungskritische Bewegungen, die sich gegen die ökologischen und sozialen Auswirkungen der Globalisierung stellten, aber auch die kurdische Bewegung und Antikriegsdemos, die nicht zuletzt mit dem Irakkrieg Anfang der Nullerjahre zusätzlich an Dringlichkeit gewannen. Dann sei in der Boa ein kleines Pensum für Literatur und Politik freigeworden. Ein halbes Jahr später wurde eine neue Stelle ausgeschrieben, worauf Eugen sieben Jahre für die Boa das Musikprogramm verantwortete und damit auch Publikum aus anderen Städten anzog.
Die darauffolgenden Jahre waren geprägt von einem akuten Bedarf an Freiräumen, vom Bedürfnis nach mehr Platz für Alternativkultur und nicht profitorientierten Häusern. Dafür setzte sich auch Eugen ein. Auf die Frage, wofür die «Phase 1» stehe beziehungsweise ob diese letztlich auf Revolution abziele, antwortet Eugen mit einem schlichten Ja und fügt lachend hinzu: «Es waren verschiedene Phasen angedacht, aber so weit kamen wir nicht.» Revolution, das bedeute eine anarchisch sozialistische Umwälzung und eine dezidiert antikapitalistische Haltung. An dieser halte er nach wie vor fest. «Die Boa, das war damals auch eine nicht parteiliche städtische Opposition. Dass man in einem subventionierten Kulturhaus heute noch ein Anti-WEF-Festival organisieren könnte, das scheint mir eher unwahrscheinlich.» Heutzutage mache man sich mit politischen Positionen angreifbar und setze die breite Unterstützung durch Bevölkerung und Stadt aufs Spiel.
«Luzern hat sich kulturell gesehen in den letzten 20 Jahren nicht positiv entwickelt. Viele Atelierplätze und Kulturhäuser wurden verdrängt, zentrale Räume in der Stadt sind rar geworden.»
BEDROHTE FREIRÄUME
Als Journalistin wie als «Auswärtige» interessiert mich mehr als das Beklagen von Zuständen die Frage, was die Bedingungen sind, damit ein Ort wie die Boa überhaupt entsteht. War es damals einfach so leer und öde, dass es eine allgemeine Dringlichkeit gab, selbst etwas aufzubauen? Und warum tun die Leute, die das Ende der Boa immer noch betrauern, nicht selbst etwas, um jenes Vakuum zu füllen? «Luzern hat sich kulturell gesehen in den letzten 20 Jahren nicht positiv entwickelt. Viele Atelierplätze und Kulturhäuser wurden verdrängt, zentrale Räume in der Stadt sind rar geworden. Nicht nur die Boa musste schliessen», sagt Eugen Scheuch. Entsprechend sind Orte wie die La Fourmi, das Frigorex oder die Halle 15 für viele jüngere Leute nur noch vage Begriffe. «Auch für die Industriestrasse 9 sieht es nicht gut aus.» Es werde vermutlich schwierig, in einem neuen, «aufgewerteten» Umfeld weiter bestehen zu können. Am letzten Industriestrassenfest habe er diese besorgte Stimmung gespürt. Auf dem rundum für die heranziehenden Kräne ausgesteckten Areal glich das Strassenfest eher einem verhaltenen Gedenkanlass. «Als grosses Problem sehe ich ein sich abzeichnendes Wegfallen des Kulturkellers an der Industriestrasse, der nach dem Ende der Boa zu einem wichtigen Ort für Alternativkultur wurde.» Sein Erfolg beweise, dass es in Luzern nach wie vor ein grosses Bedürfnis nach solchen Freiräumen gebe.
KEIN GELD FÜR DIE MUSIK
Wie aber steht es um die bestehenden Kulturhäuser wie etwa den Südpol? Das Haus hatte es zunächst schwer, da es als Ersatz herhalten musste, galt der Südpol doch als politischer Kompromiss bei der Schliessung der Boa. Und da Kompromisse nichts für Idealist:innen sind, blieben viele dem Südpol aus Prinzip fern. «Der Südpol müsste mit seinen finanziellen Mitteln für Popmusik, Tanz und Theater eigentlich die Nummer eins in der Zentralschweiz sein.» Dass dem nicht so ist, liegt für Eugen Scheuch vor allem daran, dass es im Moment niemanden gibt, der:die sich um die Programmierung der Konzerte kümmert. «Ich finde es erschreckend, dass die 80-Prozent-Stelle mit dem neuen Vorstand einfach gestrichen wurde. Stattdessen hat man die Aufgabe dem Club überlassen, wo man sich zwar mit Partys auskennt, aber nicht mit Konzertprogrammation.» Darin sieht Eugen ein Problem, das alle etwas angeht. «Wenn nur noch etwa ein Zehntel der vorgesehenen Mittel in musikalische Inhalte fliessen, dann wird der Auftrag als Konzerthaus schlicht nicht erfüllt.»
Ich frage noch einmal ketzerisch: Auf welche Kulturhäuser könnte er denn verzichten? Eugen lacht und meint, er müsse ja nicht hingehen. Wichtiger wäre es, dass man überhaupt über solche Häuser diskutiere. «Ich habe den Eindruck, dass man Angst hat, überhaupt etwas zu kritisieren. Über all die Jahre gab es kaum Kritik am Konzertprogramm im Südpol, nicht in der ‹Luzerner Zeitung›, aber auch nicht im ‹041›. Alle wollen Friede, Freude, Eierkuchen.» Eugen sieht sowohl die Medien als auch die Politik in der Pflicht. Es gehe nicht darum, inhaltlich reinzureden, sondern kritisch zu reflektieren, wie sich ein Haus positioniert und dass das Geld verwendet wird, wofür es gesprochen wurde.
PUSSY RIOT ALS STATEMENT
Eugen Scheuch arbeitet seit bald einem Jahr in der Usine. Das erste Konzert, das er dort veranstaltete, war von Pussy Riot und sorgte für Aufsehen. Ein Statement? «Mit der Einladung von Pussy Riot ging es sicher auch darum, ein politisches Zeichen gegen den russischen Angriffskrieg zu setzen.»
In der Usine möchte Eugen noch eine Weile bleiben, die Arbeit mache ihm Spass, die Genfer Kulturszene sei lebendig, international, das Interesse von Publikum und Medien sehr viel grösser als in Luzern. Dass Genf eine grosse Besetzer:innenszene hatte und noch immer hat, sei nicht zuletzt durch die breite Akzeptanz der Alternativ- und Subkultur durch Bevölkerung und Politik spürbar. «In Genf ist die Bedeutung der Usine unumstritten, ein Ende wie das der Boa wäre unvorstellbar.»
Nichtsdestotrotz verbringt Eugen seine arbeitsfreien Tage nach wie vor in Luzern, wo man sich kennt und sich vielleicht allzu oft, der Harmonie zuliebe, einig ist. Wer Eugen kennt, weiss, der Mann mag zurückhaltend und wortkarg sein, doch er hat einen langen Atem, und so ist es auch bezeichnend, dass er meist als Letzter das Lokal verlässt.