01.06.24
Musik
Die Welt ist nicht genug
Die Genfer Musikerin Aïsha Devi lotet in ihrer Kunst aus, womit sie ihre nepalesischen Wurzeln und ihr Grossvater, ein Physiker, prägten. Heute wird sie dafür weltweit gefeiert, und sie will mehr.
Timo Posselt (Text) und Cristian Andersson (Bilder)
Musik kann das. Grenzen sprengen, Revolutionen auslösen, Seelen retten. Doch Aïsha Devi reicht das nicht. «Entertainment ist gut und recht, aber ich will weiter gehen», sagte die Genfer Musikerin schon 2018 zum «Tages-Anzeiger». Und kurze Zeit später zum «Metal Magazine»: «Ich sende Signale aus, die gehören nicht auf die Erde. Sie sind so gewaltig, dass sie eine Art endlosen, kosmischen Raum auftun. Das ist, was Musik macht, sie verbindet dich mit deiner Unendlichkeit.» Die Welt von Devi ist also keine, sie ist ein Universum. Und genauso klingt sie auch.
Dann tut sich etwas auf
Ein Schrei, tausendfach verzerrt, hebt an. Eine Geissel aus Bits und Bites drischt nieder. Ein Beat wie der simulierte Puls eines Androiden beginnt zu pochen. Aïsha Devis Tracks machen Räume auf, die nichts beherbergen als Schall und Leere. Mach dich los!, sagen sie uns. Von den Gewissheiten, vom sicheren Boden der eigenen Existenz, von deinem Bezug auf das Hier und Jetzt. Dann tut sich etwas auf. Der Schall dringt vor ins Vakuum, und was du bist, wird implodieren. Darauf hat es Devi abgesehen. Denn in ihrer Musik zielt sie immer auf beides: Transzendenz und Quantenphysik, Wissenschaft und Religion, Spiritualität und Revolution. Und der Ort, den Devi für ihre metaphysische Transformation ausgewählt hat, ist der Club.
«Der Club, das ist mein Haus, mein Tempel», sagte sie zum «Tages-Anzeiger». Im Rave, so Devi im «Metal Magazine» weiter, werde die Revolution stattfinden. «Sie will unseren Geist, unsere Körper durch Musik verändern.» Devi muss es wissen. Schliesslich hat sie am eigenen Leib erfahren, welches emanzipatorische Potenzial ausgerechnet der Musik, dem Tanz, dem Rave innewohnen kann.
Alle Stadien des Ausgestossenseins
Aïsha Devi stammt aus einem Dorf zwischen Nyon und Genf, das seine Ortsbeschreibung schon im Namen trägt: Crans-près-Céligny. Und in dieser «Kerbe» bei Céligny wurde Devi in einem Jahr, das bisher in keinem Artikel vermerkt ist, als Tochter eines nepalesisch-schweizerischen Elternpaars geboren. Sie wächst bei ihrer Grossmutter auf und der Kosmos tritt schon früh in der Gestalt ihres Grossvaters in ihr Leben: Er sei Physiker gewesen, erzählte sie 2020 der «Tribune de Genève», ein «Schüler des Schülers von Einstein». Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat: Wie so eine Kindheit zwischen Waadtländer Kuhwiesen, nepalesischem Buddhismus und Quantenphysik wohl gewesen sein muss?
Spätestens als Jugendliche war die Waadtländer Vorstadtwelt für Devi vor allem hart. «Ich fühlte mich immer als Aussenseiterin, allein durch meinen Namen und durch meine Herkunft», erzählte sie dem «Tages-Anzeiger». Sie habe alle Stadien des Ausgestossenseins erlebt, so Devi zum «Metal Magazine». «Rückzug, Depression, Selbstverletzung, Suizidgedanken.» Brutal sei das gewesen. Sie habe dann versucht, ihrem Körper zu entkommen, und begann zu meditieren. «Irgendwann schwand dabei all dies einfach aus meinem Geist und Körper.» Mitte der 1990er-Jahre beginnt sie ein Studium in Grafikdesign an der ÉCAL in Lausanne und gewinnt kurz darauf für ihre Diplomarbeit den Schweizer Design Award. 2005 erscheint ihr Debütalbum «Reflections of the Dark Heat» unter dem Pseudonym Kate Wax. Für die Auftritte reist sie durch ganz Europa: Berlin, London, Amsterdam, Barcelona, Athen. 2013 gründet sie das Musiklabel mit dem sprechenden Namen Danse Noire. Zeitgleich folgt eine spirituelle Erweckung. Fortan tritt sie unter ihrem bürgerlichen Namen auf: Die Musikerin Aïsha Devi ist geboren.
Zwischen Quantenphysik und Kosmos
Wer heute bei ihrem Management für ein Interview anfragt, dem wird freundlich beschieden: Würden wir gerne machen, aber ist ganz schön viel im Moment. Inzwischen wollen alle ein Stück von Aïsha Devis kosmologischem Klanggarten. Aphex Twin, der irisch-britische Electronica-Revolutionär, ist ein erklärter Fan und lud sie einst ein, seine New Yorker Konzerte zu eröffnen. Ihr letztes Album «Death Is Home» (2023), eine von zirpenden Aliens bevölkerte Gothic-Landschaft, wurde weltweit von Kritiker: innen bejubelt. Diesen Sommer schliesslich spielt sie am Primavera Sound in Barcelona, diesem vielleicht besten Festival für vorwärtstreibende Gegenwartsmusik zwischen Nische und globalem Popstardom – und auf dem Sonnenberg am B-Sides Festival.
Devi ist also angekommen, wo sie vielleicht schon immer hingehörte: irgendwo zwischen Kuhwiese, Quantenphysik und Kosmos.