31.10.24
A hard day’s night
Von der Bankangestellten zum festen Bestandteil des Luzerner Nachtlebens – Anouschka Barrus, Besitzerin und Betreiberin der Bar Houdini, vollzog diesen Wechsel. Sie lebt ein Leben, das vom Aussterben bedroht ist.
Aurel Jörg (Text) und Liv Burkhard (Bilder)
Wer Anouschka Barrus nicht kennt, der kennt zumindest ihre sonore Stimme, ihr raumgreifendes Lachen. Fast keine Party, kein Anlass alternativer als ein Mainstream-Club, wo beides nicht im Verlauf des Abends oder eher spätnachts erklingt: Mit ihrer Energie hellt Barrus die Stimmung auf – und am Abend den Raum ihrer kleinen Bar. Dabei liebt sie das Dunkel der Nacht.
Sie höre auf mit dem Houdini, so viel sei gewiss: «Alle drehen sich doch nur noch um sich selbst. Fickt euch mit eurer Me-time!», bricht es aus ihr heraus, als ich sie in ihrer Bar in der Luzerner Neustadt treffe. Nur um Minuten später zurückzukrebsen: «Jetzt mache ich das schon zehn Jahre, auf dreizehn Jahre will ich es schon noch bringen! Aber am Rollator schwirre ich hier nicht rum.» Ihre Aussagen so scharfkantig wie die Gesteinsplatten des Pilatus, des Hausbergs ihrer Kindheit in Kriens. Dort wuchs sie in einfachen Verhältnissen auf: beide Eltern werktätig, die Familiensituation zu Hause eher angespannt. Als Barrus sechs Jahre alt ist, trennt sich ihre Mutter vom Vater, der gebürtiger Spanier ist. Fortan wächst sie bei ihren Grosseltern auf, «sehr gut umsorgt», wie sie sagt. Und trotzdem sei sie ein typisches Gastarbeiterkind gewesen – nun zusätzlich mit dem Stigma des Scheidungskindes: zu viel für die Sprösslinge vom Sonnenberg, mit denen sie erst in die Primar- und dann später in die Sekundarschule ging. «Ich wurde gnadenlos gemieden und praktisch nie eingeladen.» Sie lacht und meint, so fies seien Kinder nun mal.
«Alle drehen sich doch nur noch um sich selbst. Fickt euch mit eurer Me-time!»
Vom Schalter an den Tresen
Die Erfahrung der Ausgrenzung, so erzählt Barrus, habe sie nicht gehindert, «mit allen anderen Aussenseiter:innen Banden zu bilden». Ihre Kreativität möchte sie auch im Beruf ausleben. So steht Barrus 1988, am Ende ihrer Schulzeit, mit einer Mappe für den gestalterischen Vorkurs da – und besteht die Aufnahmeprüfung für die Kunstgewerbeschule Luzern. Ihre Mutter drängt sie indes, einen «solideren» Weg zu gehen. Zu gross ist die Angst, ihre Tochter werde als Künstlerin zu wenig verdienen. Barrus unterschreibt auf den letzten Drücker einen Lehrvertrag als Kauffrau und arbeitet fortan in einem Treuhandbüro. «Es hat mich eigentlich nur angeschissen.» Am Wochenende erste Ausflüge in die Gegenwelt des Sedels. Das alternative Kulturzentrum erkämpft sich die bewegte Jugend Luzerns Anfang der 1980er-Jahre. Anouschka Barrus lebt noch immer ein bürgerliches Leben. Nach bestandener Lehre wechselt sie zur Luzerner Kantonalbank. Hier kommt sie «mit der grossen weiten Welt in Kontakt» – zumindest am Bankschalter: Barrus verantwortet das «Fremddevisengeschäft», wie es damals noch heisst, und wickelt Jahre vor dem E-Banking den Zahlungsverkehr und das Check-Geschäft ab. Von Montag bis Freitag werden die Bankbücher rappengenau und nach strengsten Vorgaben geführt. «Auch dieser Laden und die Menschen darin waren mir zu bieder und angepasst.» So geht sie abends weiter in den Sedel, lässt den Büroalltag hinter sich. Im Schatten des stieren Tagesbetriebes öffnen sich neue Türen.
Sekretärin im Sedel
Barrus reduziert ihr Pensum bei der Bank, erst auf 80, später auf 60 Prozent. Avanciert zur jüngsten – wie sie stolz betont – Sekretärin im Sedel. Managt dort die Vereinsmitgliedschaften, Proberaumvermietungen, Suisa-Abrechnungen und alles andere, was an administrativen Arbeiten anfällt. Und sie hilft zunehmend auch hinter dem Bartresen aus. Bald steht sie öfter hinter der Bar als am Bankschalter. Sie gründet mit Freundinnen die Punk-Band Superdeelux und wechselt nun definitiv die Seiten: Den Job bei der Bank hängt sie an den Nagel und arbeitet fortan in der Gastronomie, darunter im Magdi, im Restaurant Neustadt, im Seebad und im Südpol. Ob der Dauerpräsenz der umtriebigen Barkeeperin wird es bald nicht spannungsfrei heissen, wo in Luzern es bitte schön noch Beizen gebe, in denen nicht Anouschka Barrus Bier zapfe? War sie früher überall eingespannt, ist sie heute mit ihrer eigenen Bar unzertrennlich verbunden. Unterstützt wird sie von einem kleinen Team – so dass ausser sonntags das Houdini immer geöffnet ist.
«Clubleben am Arsch»
«Heute mit 52 Jahren stehe ich mehr als die Hälfte meines Lebens hinter dem Tresen.» Und ihre Bar, der kleine Raum, jeden Abend schummrig vom warmen Licht und Zigarettenrauch, wurde für viele Stammgäste ein zweites Zuhause. Der Name Houdini bezieht sich auf den gleichnamigen Entfesselungskünstler. Doch im Nachtleben gibt es gemäss Barrus immer weniger zu entfesseln und die Arbeit sei für sie immer unbefriedigender: «Das Bar- und Clubgeschäft ist am Arsch. Falls die Menschen überhaupt noch in den Ausgang gehen, dann sagen sie am Anfang des Abends, ich nehme nur eines. Ich muss morgen noch dies und das tun. Der ganze Selbstoptimierungstrip macht mein Kerngeschäft kaputt.» Ernüchtert fügt sie hinzu: «Mein Konzept als Raucherbar, wo Menschen abends diskutieren und trinken, ist nicht mehr zeitgemäss. Es kommen keine jungen Leute mehr nach.» Sie bedauere sehr, «dass wir nicht mehr im Moment lebten und ab und zu auch unvernünftig» seien. Ständig sei der nächste Tag das Thema, dabei habe der Abend doch erst begonnen. Was der nächste Morgen für sie bereithält, weiss Anouschka Barrus noch nicht. «Dritte Säule aufbauen, das ist jedenfalls gelaufen», sagt sie taghell, aber mit leisem Bedauern.
Trotzdem öffnet sie weiterhin die Tür zu ihrer Bar. Begrüsst die vertrauten Gesichter, teilt Anekdoten und hört sich Geschichten an. Eine Beizenkultur, die vom Aussterben bedroht ist, aber von Anouschka Barrus am Leben erhalten wird. Das Lachen vergeht ihr nicht so schnell.