31.10.24
Theater
Jetzt spricht sie
Das vielfach ausgezeichnete Theaterstück «Prima Facie» der australischen Juristin und Dramatikerin Suzie Miller erzählt die Geschichte der Strafverteidigerin Tessa Ensler. Ensler verteidigt Männer, die wegen Sexualstraftaten angeklagt sind – bis sie selbst Opfer einer Vergewaltigung wird. Ein Gespräch mit der Dramaturgin Eva Böhmer über das Stück, das am Luzerner Theater gezeigt wird.
Nadia Brügger (Interview) und Andreas Etter (Bild)
Frau Böhmer, wie sind Sie auf das Stück von Suzie Miller aufmerksam geworden?
Es ist eineinhalb Jahre her, dass mich der Verleger auf das Stück hingewiesen hat. Ich fand’s beim ersten Lesen wahnsinnig gut und habe es in anderen Häusern gesehen, es war eins der meistgespielten Stücke der Saison. Im Theater wollen wir häufig die Einzigen sein, die etwas machen, aber hier reihen wir uns gerne ein: Dieses Stück kann man gar nicht oft genug auf den Spielplan bringen, weil es eine solche Dringlichkeit hat.
Was macht die Figur von Tessa Ensler für Sie so interessant?
Dass sie als Strafverteidigerin überzeugt ist davon, dass das, was sie tut, richtig ist. Tessa ist gut in ihrem Job und glaubt ans Rechtssystem, doch dann geschieht ihr etwas Schreckliches. Manchmal ist es tatsächlich so, dass wir einen persönlichen Bezug brauchen, um zu begreifen, wo das strukturelle Problem liegt. In «Prima Facie» kann auch das Publikum die individuelle Gewalterfahrung von Tessa als systemisch-geschlechtsspezifische Gewalt verstehen. Das ist wichtig, da unsere Gesellschaft Männern schneller einen Glaubwürdigkeitsüberschuss zugesteht. Daraus resultieren dann Fragen wie: «Bist du sicher, dass es eine Vergewaltigung war?» Das macht Tessa so stark: Sie weiss, dass sie eine Vergewaltigung erlebt hat, und sie lässt sich auf kein anderes Narrativ ein. Ich ziehe den Hut vor den Frauen, die sich auf diesen Weg bis vors Gericht machen, weil er sehr hart ist.
«Dieses Stück kann man gar nicht oft genug auf den Spielplan bringen, weil es eine solche Dringlichkeit hat.»
Tessa ist am Schluss des Stücks ernüchtert: Sie sieht sich vom System verraten, an das sie immer geglaubt hat. Aus dem Stoff des Stücks hat Miller einen Roman verfasst. Darin heisst es an einer Stelle: «Die Erfahrung einer Frau mit sexualisierter Gewalt fügt sich nicht in das männlich dominierte System von Wahrheit. Sie kann dieser Definition niemals genügen, und deshalb kann es auch keine Gerechtigkeit geben.»
Ohne das Ende vorwegzunehmen: Die Stärke des Stücks liegt darin, dass es aufzeigt, wie wenig als weiblich identifizierte und gelesene Personen durchkommen mit einer Anzeige. Viele der Anzeigen kommen erst gar nicht vor Gericht, da sie schon im Vorhinein von der Staatsanwaltschaft abgelehnt werden. Weil die Argumentation, das beschreibt Miller so gelungen, quasi einer anderen Kultur entspringt – einer uralten, männerdominierten Kultur, die Frauen seit Jahrtausenden für unglaubwürdig erklärt. Auch interessant ist, dass dieses Stück eigentlich erst seit diesem Jahr in der Schweiz funktioniert. Jetzt, wo die Reform des Sexualstrafrechts am 1. Juli 2024 angenommen wurde, zählt die von Tessa im Stück beschriebene Tat auch bei uns als Vergewaltigung. Das geht dir in die Knochen: Die Autorin nennt ihr Stück deutlich ein «Rape Play», und doch hätte man die Tat bis vor einem Jahr in der Schweiz nicht so benennen müssen.
Aktuell kann man Millers Stück nicht lesen, ohne an Gisèle Pelicot zu denken. Ihre ermächtigende Entscheidung, den Prozess wegen Vergewaltigung durch ihren Ehemann und mindestens 50 andere Männer in der Öffentlichkeit zu verhandeln, hat ein gesellschaftliches Erdbeben ausgelöst.
Dieser Fall ist auch deshalb so schrecklich und eindrücklich, weil es all dieses Beweis- und Videomaterial gibt, mit dem Pelicot an die Öffentlichkeit gehen kann. Und trotzdem musste sie sich den herabwürdigenden Fragen der Strafverteidigerin stellen, die ihre Glaubwürdigkeit anzweifeln wollte und Täter-Opfer-Umkehr betrieben hat. Bei Fällen sexualisierter Gewalt ist es häufig so, dass es nur die Aussagen von zwei Menschen in einem Raum gibt, was diesen Weg hin zu einer Wahrheit – vor Gericht – so schwierig macht. Das Besondere an «Prima Facie ist, dass es diese zutiefst patriarchale Stimme, die immer reingrätscht und eine an der Darstellung der Frau zweifelnde Perspektive aufmacht, einfach weglässt. Wir hören nur ihre Stimme, und das ist richtig heilend, es tut so gut.
«Die Autorin nennt ihr Stück deutlich ein ‹Rape Play›, und doch hätte man die Tat bis vor einem Jahr in der Schweiz nicht so benennen müssen.»
Sie sprechen die Besonderheit der Form an: Millers Theater ist ein Solostück, die Schauspielerin Annina Hunziker führt im Alleingang die Geschichte von Tessa Ensler auf.
Bei Miller kommt nur eine Person zu Wort, nämlich die Betroffene von sexualisierter Gewalt. Diese Person hat die Möglichkeit, in verschiedene Zustände ihrer selbst zu springen: Es gibt die Tessa von vor der Gewalttat und die Tessa danach. Das macht auch deutlich, wie massiv sich sexualisierte Gewalt auf eine Person auswirkt. Gleichzeitig kommen die Dekanin der Law School, die Richterin, der Staatsanwalt vor – die Ich-Erzählerin hat die Möglichkeit, in andere Rollen zu schlüpfen, aber es ist eben immer ihre Stimme, die erzählt. So kriegt sie die Chance, alles komplett aus ihrer Perspektive zu erzählen, so, wie sie es empfunden hat, ohne Störgeräusche von aussen. Das ist eine sehr ermächtigende Geste. Für die Schauspielerin ist es eine grosse Herausforderung – sie wird sich in nächster Zeit jeden Tag mit einer Vergewaltigung auseinandersetzen und dabei «Ich» sagen.
Der Monolog verschafft auch die Möglichkeit, einzufordern, was Frauen in unserer Gesellschaft oft verwehrt wird: In der Interaktion mit dem Publikum kann Tessa verlangen, dass wir ihr zuhören, ihre Perspektive einnehmen, sie begleiten und bestärken.
Das macht die Monologform so sinnvoll: Niemand soll Tessa dazwischenfunken können. Selbst die Fragen, die die Protagonistin sich stellt, kommen von ihr. Frauen, die sich entscheiden, vor Gericht zu gehen, kämpfen oft mit vielen Zweifeln: Sie können viel verlieren, mehr als die Männer, die sie anklagen. Es ist deshalb wichtig, dass es keine verunsichernden Aussenstimmen gibt. Wichtig war für uns auch der Raum, in dem das Stück aufgeführt wird: Zeitgenössische Dramatik spielen wir häufig im UG, das ist ein ehemaliger Schiesskeller der Polizei. Das kam für uns nicht infrage. Dieses Stück braucht Raum, viel Luft, gute Sicht und vor allem eine Menge Menschen, die zuhören. Das Stück wird deshalb in der Box des Luzerner Theaters zu sehen sein.
Besonders schön an eurer Inszenierung finde ich, dass die Schauspielerin nie allein auf der Bühne stehen wird.
Mit der Schauspielerin Annina Hunziker wird Singer-Songwriterin Evelinn Trouble auf der Bühne sein, die das Stück musikalisch begleitet. Uns war wichtig, klarzumachen: Sie ist nicht nur auf sich gestellt. Wir wollten Tessa nicht ausstellen oder alleine lassen, weil das häufig noch immer passiert: Auch Freund:innen wenden sich von Menschen ab, die sexualisierte Gewalt erfahren haben und den Täter benennen. Wir wollten Tessa eine Person an die Seite geben, die mit ihr gemeinsam da ist und den Prozess mit ihr durchsteht. Wir brauchen das: Für Frauen, für Betroffene von sexualisierter Gewalt sind Allianzen und Gemeinschaft lebensnotwendig.
Eva Böhmer studierte Theaterwissenschaft, Soziologie und Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Seit der Spielzeit 2021/22 ist sie Schauspieldramaturgin am Luzerner Theater.