01.05.24
Kunst
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Im Museum Sankturbanhof ermöglicht das Format «Im Atelier» die Begegnung zwischen Künstler:innen und Besucher:innen. Den Auftakt macht der Surseer Künstler Jeremias Bucher.
Nataša Mitrović (Text) und Christian Hartmann (Bilder)
Es ist früher Abend, als ich das Museum Sankturbanhof in Sursee betrete. In diesen Ausstellungsräumen zeigt Jeremias Bucher aktuell nicht nur seine Werke, sondern nutzt die Räume auch als Atelier. Bis Anfang Juni wird er immer wieder im Museum anzutreffen sein. Die Idee, Kunstschaffende, ihre Kunst und interessierte Besucher:innen zusammenzubringen, ist Teil des neuen Formats «Im Atelier», das mit Bucher seine Premiere feiert.
Im Linienlabyrinth
Während ich mich im Museum umsehe, höre ich leises Zeitungsrascheln, einen Kugelschreiber, der seine Bahnen zieht. Im ersten Raum hängen weisse Blätter an den Wänden. Als ich näher herangehe, genauer hinschaue, erkenne ich auf dem Papier unzählige Linien. Einige sind heller, andere dunkler, ein organisiertes Chaos. Ich folge einzelnen Strichen. Das hat etwas aufregend Beruhigendes. Dann: Ein Kugelschreiber fällt zu Boden, holt mich aus dem Linienlabyrinth.
Erst im nächsten Raum verstehe ich, woher das Zeitungsrascheln kommt. Hier hat sich Jeremias Bucher ein kleines Atelier eingerichtet. «Ich habe nur das Nötigste mitgenommen », sagt er. Ein einfacher Holztisch, die Zeitungen hat er darauf ausgelegt, ein blauer Kugelschreiber, ein langes Lineal. Dass Bucher in seiner Arbeit Zeitungen verwendet, ist bezeichnend für die Themen, denen er sich widmet; es geht immer wieder um die Lebensdauer und die Verwendung von alltäglichen Gegenständen. In diesem Raum ist nur der Arbeitsplatz von Bucher zu sehen; keine Werke hängen an den Wänden, lediglich ein blaues Plakat, auf dem Worte wie «Pool», «Selbstexperiment» und «Welle» stehen. Es erinnert mich an ein Mindmap, an eine Karte aus Gedanken und Ideen.
Ausserhalb der Komfortzone
Jeremias Bucher ist ein Künstler ohne Atelier; seine Kunst entsteht zu Hause, eher zu Randzeiten – zwischen Care- und einer Lohnarbeit als Dekorateur bei Ikea. Im Museum Sankturbanhof rückt seine künstlerische Tätigkeit nun in den Vordergrund. Die Werke, die hier entstehen, führen Bucher aus seiner Komfortzone. Eigentlich sei er vor allem ein räumlicher Künstler, kreiere Skulpturen und beschäftige sich mit deren Ausstellungsstätten. Nun arbeite er gerade an einer Reihe von Zeichnungen. «Ich möchte diesen Aufenthalt als Gelegenheit nutzen, um Arbeitsroutinen über den Haufen zu werfen.» Die drei Monate im Museum sehe er als Selbstexperiment, um neue Methoden anzuwenden. «Es geht darum, mir bewusst für das kreative Arbeiten Zeit zu nehmen», sagt Bucher. Die Geradlinigkeit und die Zeitung als «Taktgeberin», als Medium mit klarem Anfang und Ende, helfen ihm, sich zu fokussieren, in einen meditativen Flow zu kommen.
Vom Format «Im Atelier» erhofft sich Jeremias Bucher einen Austausch mit den Besucher: innen, aber auch neue Erkenntnisse durch das Verlassen der eigenen Komfortzone. «Die Zeit im Sankturbanhof geht über das künstlerische Schaffen hinaus, es ist ein sehr persönlicher Prozess. Durch die Nähe zu den Besucher:innen und den ausgestellten Werken wird man als Künstler ja irgendwie auch Teil der Ausstellung.»
Kunst zweimal erleben
Ich schaue Jeremias Bucher noch eine Weile zu, und merke, wie sich die Gedanken in meinem Kopf entwirren. Seine künstlerische Arbeit hat etwas Entschleunigendes.
Ich verabschiede mich mit einem guten Gefühl, mit einem freien Kopf. Das Format «Im Atelier», so mein Eindruck, ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung mit einer künstlerischen Praxis. Man kann die Ausstellung zweimal erleben: vor und nach dem Austausch mit den Künstler:innen. Bevor ich die Ausstellung verlasse, gehe ich nochmals in den Raum mit den aufgehängten Zeichnungen. Nun sehe ich so viel mehr als Linien auf weissem Papier.