01.01.24
Wer hat Europa entdeckt?
Die Konquistadoren überquerten den Atlantik und eigneten sich das «wilde, ungezähmte Land» an. So lautet die Geschichte, wie sie uns erzählt wurde. Doch wer hat eigentlich Europa entdeckt? Ein Gespräch mit der Historikerin Caroline Dodds Pennock.
Salomé Meier (Interview) und Ellie Cawthorne (Bild)
Caroline Dodds Pennock, Ihr neues Buch «On Savage Shores. How Indigenous Americans Discovered Europe» ist der Versuch, das «Zeitalter der Entdeckungen» unter Berücksichtigung indigener Perspektiven zu erzählen. Wie sind Sie auf diesen Perspektivenwechsel gekommen?
Als Historikerin der Aztek:innen oder Mexica (wie sie sich selbst bezeichnen würden) realisierte ich irgendwann, dass wir oft von Europäer:innen lesen, die in den Westen reisten, aber nur selten von Indigenen, die sich in den Osten begaben. Also fing ich an, nach solchen Berichten zu suchen.
Es gibt also überlieferte Zeugnisse?
Die Quellenlage ist schwierig, was mitunter daran liegt, dass Europäer:innen sich für gewöhnlich mehr dafür interessierten, was Europäer:innen taten, als für die Handlungen Angehöriger anderer Kontinente. Es gibt zwar viele schriftliche Zeugnisse von Indigenen, jedoch nur selten davon, wie sie nach Europa kamen. Was wir haben, sind Dokumente über und von der indigenen Elite; hohe Beamte und Diplomaten, die Anträge und Briefe hinterliessen. Am anderen Ende des Spektrums wurden uns schriftliche Zeugnisse von versklavten Menschen überliefert, die vor Gericht um ihr Recht auf Freiheit kämpften. Was uns fehlt, ist die Stimme all derer dazwischen; der mittleren Klasse, der Händler und Kaufmänner, der Reisenden und Repräsentant:innen einer bestimmten Gemeinschaft.
Dass indigene Perspektiven weniger gut dokumentiert sind, lassen Sie uns in Ihrem Buch nicht vergessen. Sie sprechen wiederholt davon, was die Quellen nicht sagen, was «im Dunkeln» bleibt. Entsprechend scheint die Notwendigkeit von Spekulation in Ihrer Forschung von zentraler Bedeutung zu sein.
Da ich mich mit der Geschichte der Indigenen aus dem heutigen Mexiko befasse, wo fast keine Quellen die spanische Invasion überlebt haben, war ich es gewohnt, Quellen «gegen den Strich» zu lesen. Ein Beispiel dafür sind die Briefe von Kolumbus aus dem Jahr 1492. Ich habe mich nicht auf den ursprünglichen Zweck konzentriert, für den die Briefe geschrieben wurden, nämlich der portugiesischen Krone mitzuteilen, dass er sechs Indigene als Übersetzer:innen nach Europa bringen würde, «damit sie sprechen lernten». Vielmehr habe ich versucht, zwischen den Zeilen zu lesen, Spekulationen über die Perspektive der Indigenen anzustellen, die mit Gewalt nach Europa gebracht wurden.
Diese Aufarbeitung ist sehr wichtig, da solche Geschichten nicht einfach vergessen oder verloren gingen, sondern von den Geschichten, die wir uns erzählen, aktiv ausgeklammert wurden.
Sie haben erwähnt, dass schriftliche Zeugnisse von versklavten Menschen überliefert wurden, die vor Gericht um ihr Recht auf Freiheit kämpften. Dieser Widerstand kommt viel zu selten zur Sprache. Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Ein Beispiel ist die Geschichte von Martín, einem jungen Mann aus dem heutigen Mexiko, der sich 1536 am königlichen Gerichtshof von Spanien auf sein Recht auf Freiheit beruft. Martíns Klage und den Gerichtsprotokollen können wir entnehmen, dass er als freier Mann ein Arbeitsverhältnis mit einem gewissen Gonzalo de Salazar eingeht, um in dem Moment, in dem er seine Stelle antritt, im Gesicht gebrandmarkt zu werden. Was für eine unglaubliche Verletzung, physisch wie psychisch, muss das gewesen sein? Der Fakt, dass es eine «korrekte» Brandmarkung gab, die ein legales Besitzverhältnis markiert, zeigt, dass Sklaverei in dieser Zeit nicht infrage gestellt wurde. In erster Linie ging es darum, ob ein Individuum auf legalem oder illegalem Wege versklavt wurde.
Ab 1542 häuften sich die juristischen Dokumente, in denen Indigene auch gerichtlich um ihr Recht auf Freiheit kämpften, was mit dem neuen Gesetz «für gute Behandlung und Erhaltung von Indigenen» zusammenhing. Theoretisch verboten die neuen Gesetze die Versklavung indigener Menschen, praktisch verbesserten sie die Lebensumstände der Indigenen leider kaum. Aber sie gaben den versklavten Menschen die Munition, um für ihre Freiheit zu kämpfen. Sie kämpften gegen ein ungerechtes System, aber sie kämpften. In diesen Fällen treten uns indigene Menschen oft am deutlichsten entgegen.
In Ihrem Buch erläutern Sie, wie indigene Menschen nicht nur durch die Sklaverei nach Europa kamen, sondern auch als Übersetzer:innen und Vermittler:innen, um an der Seite der Kolonisator:innen zu arbeiten. Was ist die Geschichte dieser «Go-Betweens», wie Sie sie in Ihrem Buch bezeichnen?
Sie gehören zur Gruppe von Reisenden, die relativ gut dokumentiert sind. Unter ihnen befanden sich zum Beispiel Manteo und Wanchese, die 1584 für den englischen Seefahrer Walter Ralegh übersetzten, der lange Zeit als einer der bedeutendsten europäischen «Entdecker» galt. Was dabei häufig untergeht, ist, wie wichtig diese Personen waren: In beinah jedem Austausch musste ein:e Übersetzer:in anwesend sein, obwohl sie in den Quellen nicht einmal namentlich erwähnt werden. Was erzählt wird, ist die Geschichte von Ralegh, der ein indigenes Alphabet kreierte, aber nicht jene der Übersetzer, die ihm dabei helfen mussten.
Als Walter Ralegh 1603 in Ungnade fiel und inhaftiert wurde, weil man ihm die Verschwörung mit Spanien vorwarf, war es ihm gestattet, zwei Diener mitzunehmen. Einer davon war ein guyanischer Mann namens Harry. Als Ralegh 13 Jahre später beim Versuch, seinen Ruf wiederherzustellen, erneut in die Guyanas (heutiges Guyana) reist, besucht er Harry. Doch dieser lässt ihn warten.
«Es gibt zwar viele schriftliche Zeugnisse von Indigenen, jedoch nur selten davon, wie sie nach Europa kamen.»
Eine Umkehr der Machtverhältnisse also.
Mit dieser Geste demonstriert Harry seine Überlegenheit. Es geht mir darum, die Geschichte rund um Walter Ralegh aus einer anderen Perspektive zu erzählen, eben nicht nur aus jener, die ihn als Nationalhelden feiert.
Sie bringen auch die Geschichte jener Menschen zur Sprache, die als Ehepartner:innen nach Europa kamen. Die Beziehungen waren nicht immer romantisch, da es sich meist um Ehen zwischen spanischen Männern und indigenen Dienerinnen handelte und entsprechend ein Machtgefälle bestand. Stellten diese transatlantischen Beziehungen manchmal auch eine kulturelle und politische Brücke dar?
In den Kolonien kam es zu zahlreichen Verbindungen und hin und wieder wurden indigene Ehepartnerinnen nach Europa gebracht; ich sage «hin und wieder», denn häufig waren diese Beziehungen informell, ausser die Person, mit der ein Kolonialherr liiert war, gehörte der Elite an. Indigene Nobeldamen waren als Ehepartnerinnen sehr beliebt in Spanien. Interessanterweise war die Kategorie der Klasse häufig gewichtiger als jene der Herkunft, solange die Ehepartnerinnen dem christlichen Glauben angehörten, was allerdings bedeutete, dass viele von ihnen konvertieren mussten.
Gibt es Zeugnisse von diesen Frauen?
Bemerkenswert ist die Geschichte von Francisca Pizarro Yupanqui, einer der Töchter der Inka-Herrscher. 1551 wurde sie nach Spanien exiliert, weil man befürchtete, dass sie im heutigen Peru Opfer der Machtkämpfe werden könnte, und wurde mit ihrem Onkel verheiratet, der sie in Obhut nehmen sollte. Die beiden bildeten den Kopf einer Dynastie im Westen Spaniens. Bis heute ist ihr steinernes Antlitz an der Fassade des Palastes in Trujillo zu sehen.
Indigene Menschen wurden bis weit ins 20. Jahrhundert in Völkerschauen als lebendige Exponate ausgestellt. Um es etwas provokativ zu formulieren: Auch Ihr Buch wird in gewisser Hinsicht von der «Faszination» und «Neugier» auf diese Menschen getragen. Wie kann ein respektvoller Blick auf die Geschichte der Kolonialzeit gelingen?
Ein wichtiger Aspekt ist die Sprache. In einer sehr guten Rezension meines Buches wurde bemängelt, dass ich zu oft Worte wie «könnte» und «vielleicht» verwende. Als weisse Wissenschaftlerin muss ich transparent machen, was ich weiss und was ich nicht weiss. Damit möchte ich Leser:innen einladen, anders über die Geschichte nachzudenken. Wir können nicht ignorieren, dass einige dieser Menschen über den Atlantik verschleppt wurden, um als lebende Exponate ausgestellt zu werden. Aber wir können annehmen, dass sie nicht einfach blosse Objekte dieses europäischen Spektakels waren, sondern dass sie selbst eine Agency hatten, auch wenn sie gezwungen waren, mitzuspielen.
Caroline Dodds Pennock lehrt Internationale Geschichte an der University of Sheffield. Über ihr neues Buch «On Savage Shores. How Indigenous Americans Discovered Europe» (Orion Books, 2023) spricht sie am 27. Januar am Aha Festival in Luzern.
Das Buch «On Savage Shores. How Indigenous Americans Discovered Europe» von Caroline Dodds Pennock ist im Januar 2024 beim Verlag Orion erschienen.