11.10.23
Zurück auf Feld eins
Bei der Eröffnung der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern 1951 reiste die halbe Fachwelt an, der Bau wurde als Musterbeispiel gepriesen. Vor rund zehn Jahren hing die Zukunft der Bibliothek an einem seidenen Faden. Wie kam es so weit?
Aurel Jörg (Text) und Anja Wicki (Illustration)
Ein Patt, genauer 54 gegen 54 Stimmen. Die CVP- Ratspräsidentin Trix Dettling schickte sich an, für den zweiten Durchgang der Abstimmung die abwesenden Politiker draussen auf den Gängen, einen von der CVP, zwei von der SVP, in den Ratssaal zu bitten. Am Ende stand es 56 zu 55. Der Kantonsrat Luzern entschied an diesem regnerischen 6. November 2012, die Motion Nummer 219 von CVP-Kantonsrätin Andrea Gmür-Schönenberger «über eine Integration des neuen Kantonsgerichtes im Neubau der Zentral- und Hochschulbibliothek» zu überweisen. Als Vertreter des Regierungsrates warnte der damalige Finanzdirektor Marcel Schwerzmann vergebens vor Verzögerungen und Mehrkosten. Aber der Reihe nach.
Lange Leidensgeschichte
Im Sommer 2010 beschliesst der Kantonsrat, die Zentral- und Hochschulbibliothek (ZHB) für 18,8 Millionen Franken zu sanieren. Weniger als ein halbes Jahr später – die Tiefsteuerstrategie des Kantons und versiegende Steuereinnahmen wegen der Finanzkrise 2008 entfalten ihre volle Wirkung –, verschiebt die Regierung die Sanierung um zwei Jahre. Es scheint, als ob die lange Leidensgeschichte der ZHB einfach um weitere zwei Jahre fortgesetzt würde, bestehen doch seit den 1970er-Jahren Pläne, mehr Raum für Bücher und Besucher:innen zu schaffen. Entsprechend echauffiert sich ein Leser in der «Neuen Luzerner Zeitung» vom 11. Februar 2011: «Erneut muss die Zentral- und Hochschulbibliothek zurückstehen – nun seit bald 40 Jahren. Der Entscheid ist ein Armutszeugnis für unsere Regierung, die anscheinend nicht fähig ist, Prioritäten zu setzen und das längst überfällige Projekt zu realisieren.» Der Leser spricht aus, was viele in der Stadt denken: «Andere Kantone und Städte handeln in diesen Bereichen zukunftsorientierter: Für Bibliotheken fehlt da nie das Geld. Wir sind und bleiben ein rückständiger Kanton mit einer hinterwäldlerischen Regierung.»
In der ZHB sitzen die Mitarbeiter:innen währenddessen auf gepackten Kisten – die Bücher sind bereit für den Umzug. In Erwartung der Sanierung hat die Bibliotheksleitung die anstehenden Schritte geplant und ein Lager in Entlebuch gemietet. Das Personal verlässt sich auf die Planung der Politik, auch weil die Bibliothek inzwischen nicht nur zu klein, sondern auch teilweise unbrauchbar ist: Das marode Büchermagazin wird feuerpolizeilich nicht mehr genehmigt. Ein Teil der Bücher wird nach Entlebuch verschoben, die ZHB dümpelt in dieser Zeit halb leer einer ungewissen Zukunft entgegen. Es wird Sommer und der Verein Freundeskreis der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern sammelt über 5000 Unterschriften für die sofortige Realisierung des Umbaus und reicht beim Kantonsrat eine Petition ein. Doch der Freundeskreis macht seine Rechnung ohne Hans Aregger.
Die ZHB soll vollständig abgerissen und gleichenorts mit privater Beteiligung neu errichtet werden.
ATTIKAWOHNUNGEN STATT BIBLIOTHEK – UND 10 MILLIONEN FÜR DEN KANTON
Hans Aregger, Bauunternehmer und wohnhaft in Buttisholz, damals Kantonsrat der CVP, reicht im November 2011 eine dringliche Motion ein: Die ZHB soll vollständig abgerissen und gleichenorts mit privater Beteiligung neu errichtet werden. In seiner Motion steht: «An bester Lage könnten in der Stadt Luzern sehr attraktive Büroflächen angeboten werden, was auch im Sinn einer aktiven Ansiedlungspolitik im Zusammenhang mit der steuerlich optimalen Positionierung für juristische Personen des Kantons Luzern entspricht. Zudem würde die Möglichkeit bestehen, attraktive Attikawohnungen mitten in der Stadt anzubieten.» Die Motion wird am 12. Dezember 2011 überwiesen
Jahrelange Vorbereitungen, Abklärungen und Projektierungen für die Sanierung – alles umsonst. Die Motion von Aregger verspricht nicht nur einen Neubau, sondern auch gewichtige Einnahmen für den Kanton. Die bürgerliche NZZ schrieb damals: «Dem Kanton winkten mit der Neubauvariante plötzlich Einnahmen von angeblich 10 Millionen Franken statt annähernd doppelt so hoher Ausgaben wie bei einer Sanierung. Das Wunder ermöglichen sollte eine städtebauliche Verdichtung mit einem viermal grösseren Bauvolumen über sechs statt nur drei Stockwerke.» Mitten in Luzern sollten demnach doppelt so viele Etagen gebaut werden. Das Parlament, das sich gerade mit Sparplänen und einem drohenden Defizit herumschlägt, kann dieser verlockenden Aussicht nicht widerstehen, konstatiert die NZZ und fügt an: «Von Wunschdenken geleitet, stimmte es dem Neubau begeistert zu. Allerdings wäre es gut beraten gewesen, sich vorher etwas gründlicher mit der Rechtslage rund um das bestehende Bauwerk zu befassen. Denn klar ist: Die Bibliothek lässt sich weder einfach so abreissen, noch lässt sich an deren Stelle auf die Schnelle ein Renditeobjekt hinstellen.»
Denn einem hohen, verdichteten Neubau mit privater Nutzung standen zwei Regulierungen entgegen: erstens ein Vertrag aus dem Jahr 1949, der den Kanton gegenüber der Stadt verpflichtet, das Grundstück nur mit einer Bibliothek oder einem Naturmuseum zu überbauen. Zweitens erlaubt die Zonenordnung der Stadt Luzern am Standort Vögeligärtli nur Bebauungen für öffentliche Zwecke – was Wohnungen und private Nutzungen ausschliesst. Aufgeschreckt durch Areggers Motion, so un- ausgegoren sie auch ist, erteilen Anfang 2012 erst die Regierung der Stadt Luzern und dann das städtische Parlament dem Neubau eine Absage.
Der Bund Schweizer Architektinnen und Architekten (BSA) ruft noch vor dem Start des Wettbewerbs für den Neubau von ZHB inklusive Kantonsgericht zum Boykott auf.
AUFRUF ZUM BOYKOTT
Nun dauert es noch etwas mehr als ein halbes Jahr bis zum 6. November 2012 – also bis zum folgenschweren Tag, an dem die Motion von Andrea Gmür-Schönenberger, damals CVP-Kantonsrätin, heute Ständerätin für Luzern, im Kantonsparlament überwiesen wird. Es lässt sich nur mutmassen, wie ihre Motion zustande kam: Plausibel ist, dass Gmür-Schönenberger auf Teufel komm raus einen Prestige-Neubau realisieren will – sie spricht in den Medien oft vom Kultur- und Kongresszentrum Luzern als Referenz. Nebenbei kann sie so die verunglückte Motion ihres Parteikollegen Hans Aregger vom Dezember 2011 retten und dies mit einem nützlichen Dienst für einen weiteren CVP-Parteifreund, Andreas Korner, damals angehender Präsident des Kantonsgerichts, verbinden. Denn Gmür-Schönenberger fordert trotz der deutlichen Ansage der Stadt Luzern, die ZHB und das Kantonsgericht in einem gemeinsamen Neubau zusammenzuführen. So, als ob es das Leiden, Ringen und vor allem das pfannenfertige Sanierungsprojekt nicht gäbe.
Die Wogen gehen hoch. Die Stadt empört sich ob des Hin und Hers, aber auch auf dem Land äussern sich wütende Stimmen wie jene von Stefan Calivers, Chefredaktor beim «Willisauer Boten»: «Das Gros der Kantonsratsmitglieder von der Landschaft – darunter viele aus unserer Region – muss sich vorwerfen lassen, den gerade von ihnen immer wieder beklagten Stadt-Land-Graben ohne Not weiter aufgerissen zu haben.» Denn das Kantonsparlament setzt sich über den Willen der Standortgemeinde hinweg, die Stadt Luzern will offensichtlich keinen Neubau. Calivers spricht aber auch den finanziellen Schaden der Hüst-und-Hott-Politik des Kantonsrates an: «Durchaus möglich, dass der Kanton am Schluss auch ohne Lösung für den neuen Gerichtsstandort dasteht. Und gutes Geld für all die jahrelangen Abklärungen und Provisorien für Bibliothek und Gericht buchstäblich ‹verlochet› hat.» Im April 2013, nachdem Vorstösse im Parlament Transparenz einforderten, wird klar: 1,1 Millionen Franken musste sich der Kanton Luzern wegen des Hin und Hers bis dato ans Bein streichen. Derweil sieht sich die Stadt übergangen – und der Denkmalschutz forciert die Unterschutzstellung der ZHB. Der 1951 eröffnete Bau von Otto Dreyer galt damals als Musterbeispiel. Im ersten Jahresbericht der Bibliothek stand: «Es besuchten uns Bibliothekare aus Indien, Persien, USA, Mexiko, Portugal, Italien, England, Frankreich, Belgien, Holland, Schweden und vor allem auch aus Deutschland, z. T. mit ganzen Stäben.» Sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs investierte man offenbar grosszügiger in Bibliotheken.
Die Geschichte geht nun auf ihren vorläufigen Höhepunkt zu: Der Kantonsrat versenkt im Sommer 2013 den Projektierungskredit über 4 Millionen Franken – die Grundlage für eine seriöse Planung des Neubaus. Nach der Sommerpause reichen die Grünen der Stadt Luzern eine Initiative «zur Rettung der ZHB» ein. Es wird November und der Bund Schweizer Architektinnen und Architekten (BSA) ruft noch vor dem Start des Wettbewerbs für den Neubau von ZHB inklusive Kantonsgericht zum Boykott auf. So rät der Verein aufgrund der «negativen Auswirkungen, die ein solches Vorhaben auf ein intaktes Stadtquartier mit raren Freiraumqualitäten haben wird» davon ab, an der Ausmarchung teilzuneh-men. Bis heute der erste und einzige dokumentierte Aufruf des BSA zum Boykott eines Wettbewerbs – in 115 Jahren Vereinsgeschichte. Später wird sich auch der Schweizer Ingenieur- und Architektenverein (SIA) mit «grossem Unverständnis» an das kantonale Parlament richten und es auffordern, vom «überdimensionierten Vorhaben» abzurücken und «die Vorbereitungen für diesen Wettbewerb abzubrechen».
Am 28. September 2014 tritt das Absehbare ein und die Stimmbevölkerung der Stadt Luzern nimmt die Initiative der Grünen zum Erhalt des bisherigen Gebäudes an. Der Neubau ist damit vom Tisch. Im Februar 2015 steht die Bibliothek unter Denkmalschutz – nachdem unter anderem Gmür-Schönenberger ihre Beschwerde gegen die Unterschutzstellung zurückgezogen hat. Nachdem das Kantonsparlament 2010 bereits der Sanierung zugestimmt hat, beschliesst es Anfang 2016 endgültig einen Kredit von 20 Millionen für die Sanierung. Der Baubeginn wird auf Anfang 2017 festgelegt, der erste Bagger fährt am 4. Dezember 2017 auf. Die letzte Verzögerung verursacht ein kantonsweiter Shutdown. Das Parlament kann sich nicht auf ein verbindliches Budget einigen, und so schlingert der Kanton Luzern mehrere Monate ohne rechtskräftiges Budget vor sich hin: Der grösste Zentralschweizer Kanton darf nur noch die «für die ordentliche und wirtschaftliche Staatstätigkeit unerlässlichen Aufgaben» tätigen. 330 000 Franken gehen so drauf für Anmietungen und obsolete Planungen – dies allein für die ZHB. Den Kanton kostet das fehlende Budget mehrere Millionen Franken. Als die Sanierung beginnt, tut der Kanton Luzern dies gute sieben Jahre später als beim damals schon hinausgezögerten Umbau geplant. Schliesslich öffnet die erneuerte Bibliothek 2019 wieder.
LANGSAME ERHOLUNG
Die ZHB erholt sich langsam von den Querelen und Possen und findet heute wieder den Anschluss an die Gegenwart. Noch bis Ende 2021 war sie die Hochschulbibliothek mit den zweitkürzesten Öffnungszeiten in der Schweiz: Die Unterversorgung mit Arbeitsplätzen für Student:innen in Luzern – immerhin Standort einer Hochschule mit mehreren Departementen und einer Universität – ist berüchtigt. Seit 2022 öffnet die ZHB jeden Tag (ausser an Feiertagen) von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends und zieht einen repräsentativen Querschnitt der Luzerner Bevölkerung inklusive Tourist:innen an. Der aktuelle Jahresbericht der ZHB hält fest: «Insgesamt zählten wir 2022 knapp 300 000 Besuche am Standort Sempacherstrasse; dies bedeutet gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um 70 Prozent.»
Die Motionen der CVP-Politiker:innen wie auch die Entscheide des Kantonsrates führten zu einer Verzögerung und zu Mehrkosten von mehreren Millionen Franken. Andrea Gmür-Schönenberger, die am 22. Oktober als Städterin für den Kanton Luzern zur Ständerätin wiedergewählt werden will, sagt auf mehrmalige Nachfrage zu ihrer Motion, zum Umbau und zur leidvollen Geschichte der Sanierung: «Die ZHB ist sehr schön geworden. Ich war zwar schon im Café, besuche die Bibliothek aber praktisch nie, weil ich keine Bücher ausleihe. Im Übrigen habe ich meine demokratischen Möglichkeiten und Rechte beansprucht. Mehr bleibt dazu nicht zu sagen. Das Geschäft ist seit Jahren erledigt.»