08.07.23
Zurück in die Zukunft
Die Geschichte des Luzerner Gletschergartens zeigt, was die Welt im Inneren zusammenhält: Felsen, Frauen und die eine oder andere exzentrische Idee als Publikumsmagnet.
Emilia Sulek (Text)
Der Unternehmer Josef Wilhelm Amrein-Troller liess Anfang der 1870er-Jahre eine Kellerei für seine neue Weinhandlung im Luzerner Wey-Quartier ausheben. Da wollte es der Zufall, dass er topfartige Vertiefungen – sogenannte Gletschertöpfe – im Felsen fand. Diese Überbleibsel aus der Eiszeit, die rund 20000 Jahre alt sind, sorgten für Furore. Statt in den Weinhandel stürzte sich Amrein-Troller in den Tourismus, der in Luzern boomte. Am 1. Mai 1873 eröffnete er den Gletschergarten, der nun sein 150-Jahr-Jubiläum feiert.
ALPINE OASE IM URBANEN RAUM
Die Gletschertöpfe waren erst der Anfang der neuen Geschäftsidee. Amrein-Troller entschied, den Steinbruch in einen Park zu verwandeln, den er als alpine Oase im urbanen Raum imaginierte. Dort stellte er auch verschiedene kulturhistorische Artefakte aus, darunter etwa das Relief der Urschweiz von Franz Ludwig Pfyffer, das als wichtiges Werk der Schweizer Kartografie gilt, wofür die Stadt einen Ausstellungsort suchte. Ergänzt wurde das Relief mit archäologischen Funden aus der Pfahlbausiedlung am Baldeggersee. Mit diesen Exponaten rundete der Gletschergarten das touristische Angebot der Stadt ab.
Auch die Lage hätte nicht besser sein können: Der Gletschergarten befindet sich auf der Luzerner Flaniermeile, ein paar Schritte von Löwendenkmal und Bourbaki Panorama entfernt. Mehrsprachige Werbung und eine grosszügige Preispolitik trugen zur Popularität der neuen Institution bei. Selbst der Name war ein Volltreffer.
Ursprünglich wollte Amrein-Troller sein Projekt «Garten der Urwelt» nennen, entschied sich dann aber doch für einen Titel, der Gegensätze vereint: die eisige Kälte und die Üppigkeit eines blühenden Gartens. Für so manche war der Name allerdings irreführend: Bis heute erzählt man sich Anekdoten über verwirrte Tourist:innen, die im Sommer in dicken Jacken vor der Ticketkasse auftauchten.
Zu keinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Institution war die Klimakrise so brisant und politisch wie jetzt.
FRAUEN BESTIMMEN DIE ZUKUNFT
Obwohl Frauen im Jubiläumsprogramm kaum vertreten sind, waren es gerade sie, welche die Institution am Leben erhalten haben.
Marie Amrein-Troller rettete den Gletschergarten, der nach dem frühzeitigen Tod ihres Mannes in der Krise steckte. Dieser liess sie mit vier Kindern und einem Geschäft, das gerade erst Fahrt aufgenommen hatte, zurück. Marie Amrein-Troller hatte nicht nur mit den Schulden zu kämpfen, die ihr Mann für die Gründung des Geschäfts auf sich genommen hatte, sondern musste sich auch gegen seine Verwandten wehren, die auf den Gewinn drängten.
In der männlich dominierten Geschäftswelt des 19. Jahrhunderts zeigte die neue Chefin Stärke und Einsicht. Unterstützt wurde sie von Louise Hegi, die als Sekretärin, Kassiererin und Vermittlerin im Gletschergarten tätig war. Auch ihre Tochter Mathilde Blattner brachte viel unternehmerisches Talent ein. Sie blieb bis ins hohe Alter von über 80 Jahren aktiv, unter anderem als Mitgründerin des Gemeinnützigen Frauenvereins der Stadt Luzern.
Viele Entscheidungen, welche die Popularität des Gletschergartens über Jahrzehnte hinweg sicherten, wurden von Frauen getroffen. Der Kauf des Spiegellabyrinths erwies sich zum Beispiel als Erfolg, auch wenn die Investition innerhalb der Familie umstritten war. Grossen Anklang bei den Besucher:innen fanden auch die künstliche Gletschermühle und die SAC-Hütte mit dem Gornergletscher-Diorama. Für Frauen, die bis 1980 von einer aktiven Mitgliedschaft im Schweizer Alpen-Club ausgeschlossen waren, musste die nachgestellte SAC-Hütte wohl eine zusätzliche Bedeutung tragen.
IM WANDEL DER ZEIT
Seit der Gründung des Gletschergartens sind die Schweizer Gletscher zur Hälfte geschmolzen. Bis 2080 werden sie fast gänzlich verschwunden sein. Die Klimakatastrophe prägt heute die Debatten über Umwelt, Politik und soziale Gerechtigkeit. Zu keinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Institution war das Thema so brisant und politisch wie jetzt. Auf die Frage, welche Rolle der Gletschergarten bei der Sensibilisierung der Besucher:innen spielt, antwortet der Direktor Andreas Burri: «Es ist nicht unser Ziel, das Publikum zu belehren, sondern ihnen fragend zu begegnen: Welchen Fussabdruck möchten wir hinterlassen?» So solle ein Raum geschaffen werden, in dem über die eigene Verantwortung nachgedacht werden kann. Der Fussabdruck ist ein Schlüsselbegriff des Anthropozäns, jener Periode der Erdgeschichte, in welcher der Mensch den Planeten nicht nur in nie dagewesenem Ausmass umgestaltet, sondern auch an den Rand der Klimakatastrophe getrieben hat.
Die geologische Geschichte, die vor 20 Millionen Jahren beginnt, erfährt im Anthropozän nie dagewesene Eingriffe. Davon erzählt das Projekt «Felsenwelt», das 2021 eröffnet wurde. Ein Spaziergang durch das Innere des Sandsteinfelsens, an dessen Rand der Gletschergarten steht, lädt zum Nachdenken über die Zukunft unseres Planeten ein. Die verschiedenen Gesteinsschichten vergegenwärtigen die Spuren vergangener Epochen. Das Projekt zeigt aber auch, was von unserer Zeit bleiben könnte: fossilisierte Smartphones, Flip-Flops aus Plastik und andere Begleiter:innen unseres Alltags.
Die «Felsenwelt» kann als Warnschild des Klimawandels und Weckruf zugleich gedeutet werden. Allerdings interessieren sich nicht alle Besucher:innen für das Klima. Regula Egli-Schifferli, eine Nachfahrin der Gründerfamilie und Vermittlerin im Gletschergarten, meint, dass es immer auch Personen gebe, die gerade mit der Veränderung des Klimas über Jahrtausende hinweg den Klimawandel verharmlosen. In ihren Führungen betone sie darum umso vehementer, dass das Erschreckende am heutigen Klimawandel das Tempo sei: «Was sich einst über Jahrtausende veränderte, geschieht inzwischen in nur hundert Jahren.»
ERLEBNISPARK ODER NATURMUSEUM?
Die Debatte, ob der Gletschergarten zum Erlebnispark oder zum Naturmuseum werden sollte, begleitete die Institution seit der Gründung. Den Weg zum Erfolg sahen die Frauen der Familie Amrein-Troller in der Vielfalt des kulturellen Angebots. Sinnliche Erlebnisse waren für sie genauso wichtig wie die Wissensvermittlung über die Vorgeschichte und die Welt der Naturphänomene. Nur finanzielle und räumliche Beschränkungen hinderten sie daran, andere visionäre Installationen zu realisieren.
Die «Felsenwelt» fügt sich in diesen Gedankenkanon ein. Hätte man in der Geschichte des Gletschergartens auf jene Stimmen gehört, die aus der Institution ein reines Museum machen wollten, wäre er heute vielleicht nicht in der Luzerner Kulturlandschaft anzutreffen.