Demokratie für alle

Rund 25 Prozent der in der Schweiz wohnhaften Personen haben kein Stimm- und Wahlrecht. Livia Meyer, Mitglied der Aktion Vierviertel, erklärt im Interview, warum es höchste Zeit für ein modernes Bürgerrecht ist.

Livia Meyer ist in Altbüron aufgewachsen und studiert Geschichte an der Universität Bern. Mit Ameen Mahdi ist sie seit April beim Lokalkomitee der Aktion Vierviertel in Luzern tätig.

Livia Meyer, für die Aktion Vierviertel sind Sie Koordinatorin des Lokalkomitees in Luzern. Vierviertel ist bekanntlich ein Ganzes. Welche Überlegung steckt hinter diesem Namen?

Die Aktion Vierviertel hält fest, dass wir in einer Dreiviertel-Demokratie leben. Das heisst, dass ein Viertel der Bürger:innen aufgrund ihres aufenthaltsrechtlichen Status keine politischen Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte hat.

Die Demokratie-Initiative, die nach dieser Aktion hoffentlich zur Abstimmung kommt, verfolgt das Ziel, die Schweiz zu einer Vierviertel-, also einer ganzen Demokratie zu machen, in der alle Menschen, die hier leben, auch politisch mitbestimmen können.

Für diese Demokratie-Initiative sammeln Sie gerade Unterschriften.

Genau. Wir haben bis November Zeit, 100 000 gültige Unterschriften zu sammeln.

Welche Rolle übernimmt das Lokalkomitee in dieser Zeit?

Wir versuchen primär Leute zu mobilisieren, die ebenfalls sammeln gehen. Ausserdem stehen wir in engem Kontakt mit anderen Lokalkomitees. Im Juni waren wir zum Beispiel am feministischen Streik in Luzern oder im September am Klimastreik in Bern. Es macht Sinn, an solchen Orten Unterschriften zu sammeln, da man dort auf Menschen trifft, die für Themen wie Bürgerrechte oder soziale Ungerechtigkeit sensibilisiert sind.

Die Demokratie-Initiative setzt sich für eine faire Einbürgerung ein. Was kann man sich darunter vorstellen?

Wir fordern, dass nicht mehr die Gemeinden die Kriterien für die Einbürgerung definieren, sondern der Bund. Ein erster Schritt wäre die Festlegung objektiver Kriterien auf nationaler Ebene. Der praktische Prozess an sich würde zwar weiterhin bei den Gemeinden liegen, jedoch sollte es zukünftig nicht mehr möglich sein, alles nach Lust und Laune abzufragen und einen Negativentscheid an absurden Details festzumachen.

 

«Es ist offenkundig nicht förderlich, wenn man ganze Gruppen vom Demokratieprozess ausschliesst, ihnen aber trotzdem dieselben Pflichten auferlegt wie eingebürgerten Personen.»

 

Sie sprechen die Willkür der Gemeinden an, die auch medial thematisiert wird. Immer wieder liest man, dass Personen, die seit Jahren gut integriert in einer Gemeinde leben und arbeiten, bei der Einbürgerung abgelehnt werden, weil sie irgendeinen spitzfindigen geografischen oder historischen Fakt nicht kannten. Würde die Annahme der Initiative das Ende solcher Einbürgerungstests bedeuten?

Zumindest in der bisherigen Form sollte es nach Annahme der Initiative keine Einbürgerungstests mehr geben. Es werden vier Kriterien definiert, die für eine Einbürgerung erfüllt sein müssen: Die Person muss sich seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhalten, nicht zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sein, die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährden und Grundkenntnisse einer Landessprache haben.

Diese Kriterien sind objektiv feststellbar und lassen keinen Spielraum für Schikane oder Sympathien.

Wie reagieren die Menschen auf das Anliegen der Initiative bei der Unterschriftensammlung auf der Strasse?

Es gibt sowohl Leute, die das Ganze gut finden und die Notwendigkeit unseres Anliegens erkennen, als auch jene, die das nicht tun. Eines der Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, liegt darin, dass viele Menschen Einbürgerung mit Einwanderung verwechseln.

Es kommt aber immer wieder auch zu sehr spannenden Diskussionen. Wenn ich Zeit habe, frage ich die negativ eingestellten Leute, warum sie dagegen sind. Und wenn ich ihnen dann klarmache, wie schwierig und wie willkürlich eine Einbürgerung ist und wie unfair es ist, dass man Steuern zahlen muss, aber nicht mitbestimmen darf, führt das manchmal zu einem Umdenken.

Auch bei konservativ eingestellten Personen?

Es ist offenkundig nicht förderlich, wenn man ganze Gruppen vom Demokratieprozess ausschliesst, ihnen aber trotzdem dieselben Pflichten auferlegt wie eingebürgerten Personen. Das führt viel eher zu Konflikten. Von einer Erweiterung und Stärkung der Demokratie profitieren alle.

Wenn ich die Kriterien der Demokratie-Initiative und das Manifest der Aktion Vierviertel vergleiche, fällt auf, dass der Initiativtext eine abgeschwächte Version des ursprünglichen Manifests darstellt. So heisst es im Initiativtext, dass sich die Person seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhalten muss, um Anspruch auf eine Einbürgerung zu haben. Im Manifest ist jedoch von vier Jahren die Rede, und der Zusatz «rechtmässig» entfällt.

Mit «rechtmässig» sind auch Menschen gemeint, die flüchten mussten oder sich im Asylverfahren befinden. Das ist sehr wichtig zu betonen. Nicht inkludiert sind gemäss Initiativtext Sans-Papiers und abgewiesene Asylsuchende.

Das ist tatsächlich ein kleines Zugeständnis in Richtung politische Mitte, schlussendlich ist es unser Ziel, eine Initiative zu lancieren, die eine Mehrheit findet.

Egal ob vier oder fünf Jahre. Wie kommt man auf diese Zahl?

Momentan muss eine Person zehn Jahre in der Schweiz leben, um eine Einbürgerung zu beantragen. Wir sind der Meinung, dass eine Halbierung dieser Zeit eine nachvollziehbare politische Forderung darstellt.

Denken Sie, die Initiative hätte, sofern sie zur Abstimmung kommt, im momentanen politischen Klima eine Chance?

Ich muss ehrlich sagen, dass es vermutlich schwierig wird – gerade nach dem Rechtsrutsch und dieser ganzen Rhetorik von der «Zehn Millionen Schweiz», die gerade bis weit in die gesellschaftliche Mitte Anklang findet. Wobei das eigentlich keinen Einfluss haben sollte: Bei der Initiative geht es schliesslich um Einbürgerung, nicht um Einwanderung.

Das Problem ist, dass wir Schweizer:innen, die bereits alle Privilegien haben und entweder von Geburt an einen Schweizer Pass haben oder mal eingebürgert wurden, jetzt über andere Menschen entscheiden müssen, denen diese Privilegien fehlen. Wir werden also über etwas abstimmen, was uns selbst nicht betrifft.

Das erinnert mich an die Männer, die in den 1970er-Jahren über das Frauenstimmrecht entscheiden sollten.

Das kann man gut vergleichen. Auch die Schweizer Frauen waren damals darauf angewiesen, dass eine andere Gruppe über ihre Zukunft bestimmt. Das Geschlecht und die Herkunft sind absolut willkürliche Merkmale: Es kann schliesslich niemand etwas dafür, welches Geschlecht man hat, und genauso wenig kann man etwas dafür, wo man zur Welt gekommen ist. Trotzdem führen diese Faktoren zur Abhängigkeit von einer anderen, privilegierteren Gruppe.

Sie gehören in diesem Fall selbst zur privilegierten Gruppe, die bereits über einen Schweizer Pass verfügt. Was ist Ihre persönliche Motivation, sich für die Demokratie-Initiative einzusetzen?

Migrationsthemen haben mich bereits sehr früh politisiert. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war, als ich in der Schule merkte, dass ich zusammen mit Menschen in einem Klassenzimmer sitze, die einfach nicht dieselben Rechte haben wie ich. Ich empfand das als immense Ungerechtigkeit. Dieses Gefühl ist immer noch da.


 

041 – Das Kulturmagazin
Januar/Februar 01+02/2024

Interview: Natalia Widla
Bilder: Pawel Streit

Natalia Widla ist freischaffende Journalistin und Autorin. Mit Miriam Suter hat sie das Buch «Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt» veröffentlicht, das 2023 beim Limmat Verlag erschienen ist.

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