01.03.24
Musik
Gegen den Strom
Sich Zeit zu nehmen, ist zum Akt des Widerstands geworden. Pianistin Meret Siebenhaar wagt die Entschleunigung mit ihrem Debütalbum «Treibgut».
Anna Girsberger (Text) und Sara Furrer (Bild)
Die meisten Alltagsgegenstände verbinden wir mit einer spezifischen Funktion. Nehmen wir als Beispiel ein Geodreieck. Es ist dazu da, gerade Linien zu zeichnen, Längen und Winkel auszumessen. Was aber, wenn Gegenstände plötzlich ganz unabhängig von ihrem Zweck verwendet werden?
Dass Geodreiecke etwa auch Musik machen können, stellt die Pianistin Meret Siebenhaar eindrücklich unter Beweis. Die junge Luzernerin ist dauernd auf der Suche nach Material, mit dem sie ihrem Instrument neue Klänge entlocken kann. Ob Magnete oder Qigong-Kugeln – wenn Siebenhaar am Flügel sitzt, findet sich auf den Saiten allerlei. «Klavierpräparation» nennt sich dieses Verfahren, mit dem Musiker:innen den Klang des Instruments verändern. Ein Geodreieck kann zum Beispiel mit gedrücktem Pedal über die Saiten gezogen werden, worauf ein gespenstisches Kreischen entsteht. Magnete können auf die Saiten gelegt, Essstäbchen dazwischengeklemmt, Uhu-Klebestreifen daran befestigt werden. Die Möglichkeiten sind endlos.
Minimale Mittel
Nachdem Meret Siebenhaar zwei Jahre daran gearbeitet hatte, veröffentlichte sie Ende Februar ihr Debütalbum «Treibgut». Es beinhaltet nur vier Stücke: «Funken», «Strom», «Gleichzeit» und «Ufer». Alle sind länger als das bevorzugte Spotify-Format, «Strom» dauert ganze vierzehn Minuten. Siebenhaar geht es darum, sich Zeit zu nehmen, Entschleunigung zuzulassen. Ein Anliegen, das in einer eng getakteten Gesellschaft als schieren Akt des Widerstands gelesen werden kann.
Schon während des Studiums kehrt Siebenhaar dem traditionellen Jazz-Klavier-Spiel den Rücken zu und setzt ihren Schwerpunkt auf die freie Improvisation. In dieser Zeit beginnt sie eigene Stücke zu komponieren, jedoch ohne die Absicht, ein Album zu produzieren. Der Wunsch, ihre eigene Stimme zu finden, treibt sie an.
Die Musik, die aus diesem mehrjährigen Prozess hervorgegangen ist und nun in ihr erstes Album mündet, wirkt nie überladen, trotz verschiedenster Techniken und Klänge, die sich darin überlagern. Im Gegenteil: Mit minimalen Mitteln gelingt es ihr, eine maximale Wirkung zu erzeugen.
Der Fokus auf das Wesentliche geht vor allem aus der Minimal Music hervor, die Siebenhaar beeinflusst hat. Die 24-Jährige arbeitet häufig mit repetitiven Patterns, die sich langsam wandeln und bei den Zuhörer: innen tranceartige Zustände auslösen können. «Treibgut» beginnt mit einem einzelnen sich wiederholenden Ton, im Hintergrund eine leise rauschende Geräuschkulisse. Obwohl die Klänge im Verlauf des Albums dichter werden, verlieren sie ihre Intentionalität nicht – jede Note scheint sorgfältig ausgewählt. Achtsamkeit liegt im Trend, das Konzept von Siebenhaar entspricht dem Zeitgeist: Musik, die sich der Reizüberflutung des Alltags widersetzt.
Konzeptionell kann das Album als Beschäftigung mit Elektrizität oder Wasser verstanden werden. Es beginnt mit einem Funken, lässt sich vom Fluss treiben und endet mit der Ankunft an neuen Ufern.
Einen Moment innehalten
Zurück zum Geodreieck und zu den Qigong- Kugeln: Meret Siebenhaar nutzt diese Objekte, um eine spezifische Atmosphäre zu schaffen, Spannung auf- und abzubauen. Bei der Klavierpräparation wird zwischen sogenannten «Gimmicks» und «Tools» unterschieden: Zu einem «Gimmick», einer Spielerei, wird ein Gegenstand dann, wenn er keinen wirklichen musikalischen Wert hat. Ein «Tool» hingegen trägt zum musikalischen Ausdruck bei. Bei «Treibgut» ist Letzteres der Fall: Die von Meret Siebenhaar verwendeten Objekte sind ein fester und wichtiger Bestandteil der Stücke und werden gezielt eingesetzt, um eine klangliche Vielfalt an Stimmungen zu schaffen.
«Treibgut» ist ein in sich gekehrtes Debüt geworden, in dessen Ruhe viel Kraft liegt. Damit die Musik auf Zuhörer:innen wirkt, braucht sie deren volle Aufmerksamkeit. Voraussetzung ist aktives Zuhören und die Bereitschaft, einen Moment innezuhalten.
Das Album «Treibgut» von Meret Siebenhaar ist im Februar 2024 erschienen.