![Porträt von Julian Schmidli, fotografiert von Anne Morgenstern](/_next/image?url=https%3A%2F%2Fnull41.nodehive.app%2Fsites%2Fdefault%2Ffiles%2F2024-07%2FGro%25C3%259F%2520%2528Julian_Schmidli_2023_F0A9712%2529_web.jpg&w=3840&q=75)
01.01.24
Literatur
Wann ist ein Mann ein Mann?
Der Luzerner Autor Julian Schmidli hat seinen ersten Roman herausgebracht. Ein leichtfüssiger Roadtrip, bei dem allerdings auch Klischees mitreisen.
Ruth Gantert (Text) und Anne Morgenstern (Bild)
Was bedeutet Männlichkeit heute? Wie verhalten sich wahre Freunde – und gibt es die Liebe? Nichts weniger als diese Fragen verhandelt Julian Schmidli in seinem Romanerstling «Zeit der Mauersegler», der jüngst im Schweizer Verlag Kein und Aber erschienen ist.
Anhand einer Dorfgeschichte, die in einen Roadtrip mündet, erzählt er von zwei Jungen, die im Berner Oberland der Neunzigerjahre aufwachsen und unterschiedlicher nicht sein könnten. Klein, schmächtig und verträumt der eine, Sohn italienischer Einwanderer aus Neapel; gross, rund und behäbig der andere, Metzgersohn aus einer Familie «mit Berner Oberländer Stammbaum, der zurückreichte bis zur Schlacht in Murten». Nino Malatesta und Jürg Helmiger sind Einzelkinder und spielen schon im Vorschulalter miteinander. Die Kinder des Dorfs nennen sie hämisch «Dick und Doof», doch die beiden Freunde sehen sich eher als Bud Spencer und Terence Hill. Für den kinobegeisterten Nino ist vor allem Jean-Paul Belmondo ein Vorbild – Belmondo ist denn auch der Spitzname, den er von seinem Grossvater bekommt. So bilden Belmondo und Tschüge zusammen das unzertrennliche Duo «Double Trouble».
Initiationserfahrung im Cinquecento
Doch es entstehen Risse in der Freundschaft. Mit zwölf Jahren verlieben sie sich in das gleiche Mädchen, die «zierliche» Leila aus dem Kosovo; mit fünfzehn verweigert Nino die gemeinsamen Besuche von Fussballspielen und mit achtzehn zieht er von zu Hause weg in die Stadt und wird Filmemacher – während Tschüge im Dorf bleibt und die Metzgerei der Eltern übernimmt. Als Leila ein Kind erwartet und sie und Tschüge heiraten, lässt Nino sich von seinem Freund zu einer gemeinsamen Reise nach Pristina überreden, wo die Trauung stattfinden soll. Die Reise im Fiat Cinquecento, den Nino von seinem Grossvater geerbt hat, wird zur Initiationserfahrung für die bald Dreissigjährigen. Unterwegs gesellt sich der homosexuelle Siro aus Mostar zu ihnen, der als Schlepper gesucht wird, und zeitweise auch Jovana aus Sarajevo, die Geflüchteten hilft und deren Faszination Nino erliegt.
Wird es den Freunden gelingen, trotz Streit, Alkohol- und Haschischexzessen, vorübergehender Festnahme, Mutproben und Schlägereien, Autodiebstahl und verminten Feldern rechtzeitig in Pristina anzukommen und die Hochzeit zu feiern?
Was ihn nicht umbrachte, brachte ihn zum Weinen
Julian Schmidli erzählt die Geschichte rasant und schmissig, wobei die Glaubwürdigkeit manchmal zugunsten der süffigen Szenen arg strapaziert wird; zum Beispiel, wenn die beiden Freunde sich im Auto eine Verfolgungsjagd mit Neonazis liefern und gleichzeitig ihre Beziehung zu Leila erörtern. Themen wie Selbstmord, Kriegstraumata, Migration, Rassismus und Homofeindlichkeit werden in dieser gutgelaunten Abenteuergeschichte nur angetippt, was irritieren mag. Vertieft wird dafür die Frage, was ein richtiger Mann tun und lassen muss. Soll er boxen können, sich schweigend durchbeissen und lieber fressen als gefressen werden, gemäss den Idealen von Ninos Vater? Dieser wollte seinen zartbesaiteten Sohn zur Härte erziehen und bediente sich dabei altbekannter Plattitüden wie «Ein Indianer kennt keinen Schmerz», die der Ich-Erzähler manchmal auf witzige Art und Weise abwandelt: «Was mich nicht umbrachte, brachte mich zum Weinen.» Allerdings ist der Roman nicht gefeit vor Klischees und verbreitet vor allem zum Schluss Phrasen im Stil von: «Die Tränen sind Teil von dir. Sie machen dich schön.»
Einen tiefschürfenden Beitrag zu aktuellen Geschlechterfragen wird man in «Zeit der Mauersegler» ebenso wenig finden wie eine Auseinandersetzung mit der Stellung von Migrant:innen in der Schweiz oder der Geschichte Jugoslawiens. Aber wer einer Young- Adult-Story mit flapsigen Dialogen und Situationskomik folgen mag, wird gerne im Fiat Cinquecento mitreisen.
Das Buch «Zeit der Mauersegler» von Julian Schmidli ist im August 2023 beim Verlag Kein & Aber erschienen.