01.01.24
Kunst
Wie viele Stimmen hat ein Solo?
In der Ausstellung «Solo» wird das Schaffen jener Person präsentiert, die mit dem Preis der Kunstgesellschaft Luzern ausgezeichnet wurde. Dieses Jahr widersetzen sich Martian M. Mächler, Esther Vorwerk und André Veigas P. dem Konzept alleiniger Autor:innenschaft. Ihre mehrstimmige Text- und Soundinstallation ist bis Anfang Februar im Kunstmuseum Luzern zu sehen.
Eva-Maria Knüsel (Text) und Marc Latzel (Bilder)
«In the distance they hear another name. Is it theirs?» («In der Ferne hören sie einen anderen Namen. Ist es ihrer?»)
Dieser handschriftliche, transparente Schriftzug wurde auf der Scheibe der Passerelle im Kunstmuseum Luzern angebracht. Er lässt sich leicht übersehen und erst beim genauen Hinsehen entziffern. Je nach Lichtverhältnissen spiegelt sich das eigene Abbild in der Scheibe oder eröffnet sich der Blick auf die vergitterte Fassade des KKL und die Wasserkanäle, welche die Architektur durchziehen.
Der Schriftzug bildet den Auftakt zur Ausstellung «Solo» von Martian M. Mächler, Esther Vorwerk und André Veigas P. Veränderungen und flüchtige Übergänge, wahrnehmen oder gesehen werden, benannt werden oder sich einer Bezeichnung entziehen: Das sind Leitmotive der feinen Schau.
Automatisches Schreiben
Anlass für die Ausstellung ist der Preis der Kunstgesellschaft Luzern, den Martian M. Mächler 2022 erhielt. Der Ausstellungstitel «Solo» wird dabei vom Museum vorgegeben und soll eine herausragende, singuläre Position präsentieren. Sich bewusst der alleinigen Autor:innenschaft widersetzend, haben sich die drei Kunst- und Literaturschaffenden in ihrer erstmaligen Kollaboration mit der Frage auseinandergesetzt, wie viele Stimmen ein Solo hat und wie diese in unterschiedlichen Resonanzkörpern klingen. Sie tauschten sich über Texte verschiedener Denker:innen und Künstler: innen zum Thema aus und befragten neben den Potenzialen auch mögliche Abhängigkeitsverhältnisse kollektiver Arbeitsprozesse.
Um einen Einstieg ins gemeinsame Schreiben zu finden und eine rücksichtsvolle Praxis zu entwickeln, kreierten sie ein Set an praktischen Übungen: In Anlehnung an Methoden der Écriture automatique oder gezielte Körper- und Wahrnehmungsübungen lasen sie einander vor, improvisierten mit der eigenen Stimme und reagierten reihum auf Sätze der jeweils anderen Person.
Aus den erarbeiteten Text- und Soundelementen entstand die vielstimmige Komposition «Rest without a Name (On Ruins)». Diese ist über kabellose Kopfhörer im Kunstmuseum erfahrbar, was es den Besucher:innen ermöglicht, sich während des Hörens durch die Ausstellungsräume zu bewegen.
Die fragmentarische Erzählung der Komposition verbindet Gedichte mit Textpartien in Prosa und in Briefform. Der Wechsel zwischen deutscher und englischer Sprache verstärkt den Eindruck der Vielstimmigkeit. Das Nachdenken über die Beschaffenheit von Stimme, Sprache und Blickregimes bildet wiederkehrende Orientierungspunkte: Welche Deutungsmacht haben Blicke? Wer spricht über wen? Und aus welcher Perspektive?
Tausend Augen
Über die Kopfhörer sind ein Rauschen und glöckchenartige Klänge zu hören. Sie bilden die Soundkulisse für die Erzählung, die von einem rätselhaften Wesen handelt – Poly Phem. Der Name ist der griechischen Mythologie entlehnt: Polyphemus ist ein riesenhafter Zyklop, in der Biologie ist ein Wasserfloh so benannt. Diese Hauptfigur bleibt mehrdeutig, sie nimmt variable Dimensionen und Identitäten an, ist allein und gleichzeitig viele, verfügt über tausende Augen, deren Wimpern mit Mascara geschminkt werden, legt Eier und ist von Schafen umgeben.
Poly Phem lässt sich als Metapher für das Anderssein verstehen, für die Überwindung gesellschaftlicher Normen. Gleichzeitig thematisiert der gesprochene Text die Erwartungshaltung und den Widerstand einer Mehrheitsgesellschaft und fragt nach einem Umgang mit diesem schwer fassbaren Wesen.
In einer Szene bewirbt sich Poly Phem aus finanziellen Gründen auf einen Open Call. Woher dieser kommt, an wen er sich richtet und wozu der Aufruf einlädt, bleibt unbekannt. Poly Phem bekundet das Interesse an der Teilnahme in einem Schreiben und legt darin die eigene Verfassung dar. Im Brief fragt Poly Phem danach, ob das unvorhersehbare Bedürfnis nach Schlaf, regelmässigen Pausen und die unbeschränkte Zugänglichkeit zum Gewässer, worin der Nachwuchs in Form von Eiern abgelegt wird, für die Zusammenarbeit zumutbar seien. Humorvoll reflektieren die drei Autor:innen gängige Vorstellungen von Produktivität und die Rahmenbedingungen des Kunstbetriebs mit seinen Ansprüchen hinsichtlich Flexibilität, Mobilität und Ungebundenheit.
Poly Phem bleibt mehrdeutig, nimmt variable Dimensionen und Identitäten an, ist allein und gleichzeitig viele, verfügt über tausende Augen, deren Wimpern mit Mascara geschminkt werden, legt Eier und ist von Schafen umgeben.
Mit sich selbst konfrontiert
Die in der Komposition beschriebene Insel, auf der Poly Phem lebt, bildet einen Mikrokosmos. Sie kann als utopischer Ort verstanden werden, in dem alternative Lebensformen, sich Sorge tragende Gemeinschaften und eine Selbstverortung jenseits gewohnter Bezeichnungen und Zuschreibungen möglich werden.
Wiederholt begegnen die Textauszüge auf den Scheiben den Besucher:innen in den Durchgängen des Kunstmuseums. Durch die Spiegelung werden wir unweigerlich mit uns selbst konfrontiert und dazu animiert, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen.
Wenn wir die Kopfhörer ablegen, schweift unser Blick durch die Glasscheiben auf die Weite des Vierwaldstättersees, wo sich bestimmt der eine oder andere Wasserfloh tummelt.