01.06.24
Die letzte Blackbox der Schweiz
Als einziger Kanton der Schweiz hat Luzern kein kantonales Öffentlichkeitsgesetz. Nun soll es eingeführt werden. Doch am Gesetzesvorschlag gibt es Kritik.
Reto Nägeli (Text) und Luca Mondgenast (Illustration)
«Wissen ist Macht.» Mit diesen Worten begann der radikaldemokratische Revolutionär Wilhelm Liebknecht 1872 eine der wichtigsten Reden der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Liebknecht war der Ansicht, wer den Menschen die Bildung verweigere, der halte sie in politischer Ohnmacht. «Heute müsste das heissen: Information ist Macht», sagt Hans Stutz, ehemaliger Luzerner Grüne-Kantonsrat, angesprochen auf das Öffentlichkeitsprinzip. Stutz kämpft seit der ersten Stunde für dessen Einführung in Luzern. Er sieht darin ein wichtiges Kontrollinstrument für die Zivilgesellschaft.
Das Öffentlichkeitsprinzip regelt den Zugang zu amtlichen Dokumenten und gewährleistet einen Einblick in die Arbeit der Verwaltung. Über ein Gesuch lässt sich zum Beispiel Einsicht in E-Mails, Sitzungsprotokolle oder Leistungsverträge anfordern, sofern man deren Bedeutung für die Öffentlichkeit begründen kann. Früher unterlagen amtliche Dokumente dem Geheimhaltungsprinzip, doch seit Anfang der Nullerjahre hat sich das angelsächsische Verwaltungsverständnis durchgesetzt: Im Prinzip sind alle Informationen öffentlich. Das ist gut so, findet Stutz: «Ist das Volk der Souverän, braucht es Einblick in die Vorgänge der Verwaltung.»
Gerade im Journalismus ist das Öffentlichkeitsprinzip ein wichtiges Instrument und trägt zur Aufklärung von Missständen bei. So enthüllte die «NZZ am Sonntag» im vergangenen Jahr, wie der Bundesrat hinter dem Rücken der Öffentlichkeit beschloss, die EU-Sanktionen gegen China nicht mitzutragen. Mithilfe des Öffentlichkeitsgesetzes erhielt die NZZ interne Sitzungsprotokolle, mit denen sie den Entscheidungsprozess rekonstruieren konnte. Das Online-Magazin «Republik» deckte im Mai auf, dass das Umweltdepartement unter Bundesrat Albert Rösti einen Bericht über den Zustand der Biodiversität in der Schweiz frisiert hat. Die «Republik» erhielt aufgrund des Öffentlichkeitsgesetzes die Gutachten, die diesem Bericht zugrunde lagen.
Diese Beispiele zeigen exemplarisch: Das Öffentlichkeitsprinzip dient der Zivilgesellschaft in ihrer Funktion als Wachhund der Demokratie.
Längst überfällig
Auf Bundesebene wurde das Öffentlichkeitsprinzip 2006 eingeführt, die meisten Kantone folgten in den Jahren danach. Nur in Luzern sind die Dokumente noch im Dunkeln, die kantonale Verwaltung ist die letzte Blackbox der Schweiz. Nach 14 Jahren hitziger Diskussionen steht nun aber die Einführung eines kantonalen Gesetzes bevor. «Längst überfällig», wie Hans Stutz findet. Bereits 2010 forderte der Grüne Kantonsrat Alain Greter die Abkehr vom Geheimhaltungsprinzip und startete eine Odyssee durch die kantonale Politik. Die Vernehmlassung zum Vorstoss wurde mehrmals verschoben, 2014 schmetterten die bürgerlichen Parteien die Vorlage mit grosser Mehrheit ab. Doch nach den kantonalen Wahlen 2019 drehte der Wind. Das Parlament wurde jünger und linker und damit offener für eine transparentere Verwaltung. 2022 stimmte der Kantonsrat einem Vorschlag der Staatspolitischen Kommission zur Einführung des Öffentlichkeitsprinzips zu.
Der Luzerner Vorschlag ist aber nicht nur Grund zur Freude, er kommt mit erheblichen Mängeln daher. Das kritisiert der Verein Öffentlichkeitsgesetz.ch, der sich für die konsequente Umsetzung des Prinzips in der Schweiz einsetzt. Er spricht von «Freipässen» für die Verwaltung. Dem aktuellen Gesetzesvorschlag unterstehen nur die «Organe der Zentralverwaltung», bestehend aus Regierungsrat, Departementen, Staatskanzlei, Dienststellen und Schulen. Davon ausgenommen sind Einrichtungen, die den Behörden nahestehen oder in ihrem Auftrag handeln, zum Beispiel Spitäler oder Asylheime. Das birgt erhebliches Geheimhaltungspotenzial, gerade in einem Kanton wie Luzern, wo in den letzten Jahren aufgrund von Sparmassnahmen viele öffentliche Aufgaben privatisiert wurden. Martin Stoll vom Verein Öffentlichkeitsgesetz.ch sagt dazu: «Der Grundgedanke des Öffentlichkeitsprinzips ist, dass sich die Zivilgesellschaft ein Bild von den Tätigkeiten der Verwaltung machen kann. Wenn man das ernst nimmt, dann muss man zwingend alle Verwaltungstätigkeiten der Öffentlichkeit unterstellen, auch die der erweiterten Verwaltung.» Die Luzerner Einschränkung sei im Vergleich mit anderen Kantonen nicht üblich, so Stoll.
Ausserdem will die Vorlage Notizen und Kalendereinträge vom Einsichtsrecht ausschliessen, was laut Öffentlichkeitsgesetz.ch gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichts verstösst. Ebenfalls keinen Einblick soll es in «Protokolle von nicht öffentlichen Sitzungen» geben, womit das Öffentlichkeitsprinzip einen seiner wichtigsten Pfeiler verlieren würde. SVP, FDP und die Mitte unterstützen den Ausschluss. Weitere Schwachstellen im Luzerner Vorschlag sind der Ausschluss der Finanzkontrolle und fehlende Fristen für die Beantwortung der Anträge. Zudem stellt die Gebührenregelung, die bereits ab 30 Minuten Kosten veranschlagt, eine erhebliche Hürde für die effektive Umsetzung des Gesetzes dar. Sie behindert Personen bei der Nutzung des Prinzips und schwächt dieses entscheidend.
Nur ein feigenblatt?
Im Vergleich zu anderen Ländern mit ähnlichen Gesetzen wird das Öffentlichkeitsgesetz in der Schweiz noch wenig genutzt. Das hat diverse Gründe: Einsichtsgesuche brauchen Zeit und Fachwissen. Man muss wissen, was man sucht und wo man die Informationen finden könnte. Und wenn man das herausgefunden hat, dann kann es eine Weile dauern, bis die Dokumente auf dem Tisch liegen. Erschwert die gesetzliche Lage die Einsicht zusätzlich, droht das Prinzip zu einem Feigenblatt für eine intransparente Verwaltung zu werden.
Das gesellschaftliche Bedürfnis nach Transparenz sei hoch, sagt Martin Stoll. Das zeigte auch die Abstimmung im Kanton Thurgau vor fünf Jahren, wo sich 80 Prozent für die Einführung des Öffentlichkeitsprinzips ausgesprochen haben. «Das Öffentlichkeitsprinzip ist gelebte Demokratie», fasst Stoll zusammen. Oder frei nach Wilhelm Liebknecht: Es ist eines von vielen Mitteln, um die Menschen aus der politischen Ohnmacht zu befreien.