01.04.24
Der Wert der Arbeit
Broschüren falten, Artikel verpacken, Produkte verkleben. All das wird im Gefängnis erledigt. Denn: Wer inhaftiert ist, untersteht einer gesetzlichen Arbeitspflicht, soll dadurch «resozialisiert» werden. Ein Besuch in der Justizvollzugsanstalt Grosshof in Kriens.
Giulia Bernardi, Daniel Riniker (Text) und Saskja Rosset (Bilder)
«Produktion hinter geschlossenen Türen» steht auf dem Flyer, der vor uns liegt. Der Titel wird durch eine Fotografie ergänzt, darauf ein langer Gang, geschlossene Zellen, helles Licht, das sich im orangefarbenen Boden spiegelt. «Montage, Verpackung, Mailing, Versand … und wir können noch mehr!»
So preist die Justizvollzugsanstalt Grosshof in Kriens die Dienstleistungen an, die von den Inhaftierten verrichtet werden können. So beklemmend wie die Fotografie wirkt auch das, was der Flyer vermitteln möchte: die JVA Grosshof als leistungsfähige Dienstleisterin, als Produktionsstätte, die sich von anderen kaum unterscheidet. Mit Ausnahme der geschlossenen Türen.
Wir blicken skeptisch auf den Flyer, auf die Selbstverständlichkeit, mit der zeitliche Flexibilität und auf Anfrage sogar Einsätze am Wochenende angeboten werden. «Wir arbeiten mit regionalen, nationalen und internationalen Unternehmen aus verschiedensten Branchen zusammen.» Wer profitiert eigentlich von dieser Arbeit? Sind es die Inhaftierten, weil sie einer bezahlten Beschäftigung nachgehen können? Oder sind es die jeweiligen Unternehmen, die ihre Broschüren günstig falten, ihre Produkte preiswert verpacken lassen? Im Strafvollzug gilt eine gesetzliche Arbeitspflicht, die je nach Anstalt mehr oder weniger strikt durchgesetzt wird. Wo liegt die Grenze zwischen Arbeitspflicht und Arbeitszwang?
Es ist Herbst und wir stehen am Anfang unserer Recherche. Wir denken, die Antwort auf viele Fragen bereits zu kennen. Wir denken, dass die Inhaftierten billige Arbeitskräfte für Unternehmen sind. Wir denken, wer von der Arbeit im Gefängnis als «resozialisierender» Massnahme spricht, ist zynisch. Wir denken nicht daran, dass wir das Ganze vielleicht zu sehr vereinfachen, dass die wirklichen Probleme womöglich woanders liegen.
Jeden Tag «Homeoffice»
Nach einem Telefonat Anfang September braucht es vier Monate und mehrere Nachfragen, bis ein Besuch möglich wird. Es ist kalt, mittlerweile Winter, als wir in Kriens vor dem Eingang der JVA Grosshof stehen, der einzigen geschlossenen Justizvollzugsanstalt im Kanton Luzern. Dort empfängt uns Daniela Tanno, die seit 2021 den Bereich Arbeit, Beschäftigung und Bildung leitet. Sie bittet uns, am Empfang unsere IDs abzugeben, und führt uns durch eine eindrückliche Sicherheitsarchitektur aus bruchsicherem Glas, Stahl und Beton, durch Türen, die sich nur mit einem entsprechenden Code öffnen lassen oder mit einem Handlesegerät ausgestattet sind. «Auch das gehört zum Bereich Arbeit», sagt Tanno und zeigt auf die selbstgemachte Fastnachtsdeko, welche die Monotonie im Gang unterbricht. Tanno weiss, wer die verschiedenen Raketen und Planeten aus Karton und buntem Papier angefertigt hat, kann zu jedem Objekt eine Anekdote erzählen. Dahinter sehe sie vor allem den Willen der Menschen, die Zeit während der Haft so sinnvoll wie möglich zu nutzen.
Schnell wird klar, dass in der JVA Grosshof nicht nur gebastelt, sondern auch ernsthaft produziert wird. In einem Sitzungszimmer zeigt uns Daniela Tanno eine PowerPoint- Präsentation über den Arbeitsbetrieb. Anwesend sind auch Ana Blank und Rafael Fischer, ebenfalls im Bereich Arbeit und Beschäftigung tätig. In der JVA Grosshof können bis zu 112 Frauen und Männer inhaftiert werden, erzählt Tanno, während sie durch die Präsentation führt. Es gebe rund 70 Arbeitsplätze für externe Aufträge wie auch interne Arbeiten in der Hauswirtschaft, die von Inhaftierten oder besser gesagt von «eingewiesenen Personen» besetzt werden. Dieser etwas sperrige Begriff sei relativ neu und verursache noch einige Stolperer. Doch auch er solle klarmachen, dass es hier um den Menschen gehe. Während Tanno den Tagesablauf schildert – zwischen «Zellenöffnung» um 6 Uhr und «Zellenschliessung» um 20 Uhr –, betont sie immer wieder, was es für den individuellen Menschen bedeute, im Gefängnis zu leben und zu arbeiten. «Im Gefängnis ist jeden Tag Homeoffice», sagt sie, um nachvollziehbar zu machen, dass der Arbeitsbetrieb vor allem dazu da sei, den Alltag in Haft erträglicher zu gestalten. Die meisten eingewiesenen Personen seien froh, arbeiten zu können: Das bringe eine sinnvolle Beschäftigung mit sich oder zumindest eine willkommene Ablenkung und die Möglichkeit eines Verdienstes. Das Arbeitsentgelt – also der «Lohn», den die Inhaftierten erhalten –, beträgt in der JVA Grosshof zu Beginn 21 Franken pro Tag und kann «leistungsabhängig» auf über 30 Franken pro Tag steigen. Das Arbeitsentgelt wird überkantonal vom Strafvollzugskonkordat geregelt. Das Konkordat der Nordwestund Innerschweiz empfiehlt ein durchschnittliches Arbeitsentgelt von 30 Franken pro Tag. «Im Zentrum des Strafvollzugs steht die Resozialisierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft, deshalb bezahlen wir auch, wenn jemand an einem Bildungsangebot teilnimmt », sagt Tanno. In der JVA Grosshof ist dafür ein Halbtag pro Woche vorgesehen. «In unserer Gesellschaft ist Arbeit nun einmal zentral, deshalb muss das auch im Gefängnis so sein.»
Untendurch müssen
Brauche es überhaupt eine Arbeitspflicht?, fragen wir nach, wenn Arbeiten so beliebt sei. «Ja, die braucht es», antwortet Daniela Tanno, ohne zu zögern. «Ansonsten bekommt die persönliche Befindlichkeit ein zu grosses Gewicht.» Insbesondere für eingewiesene Personen, die lange in der JVA sind, sei eine klare Tagesstruktur zentral. Und was, wenn jemand nicht arbeiten will? «Wir suchen das Gespräch und entscheiden je nach Situation, ob es zum Zelleneinschluss kommt. Letzteres bedeutet, dass wir die Person nach dem Frühstück wieder einschliessen.» Ausgenommen seien Personen, die ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis haben oder krankgeschrieben sind. «Auch hier gilt der Grundsatz: drinnen wie draussen.»
Nur stellt sich hier die Frage: Wenn die Konsequenz darin besteht, den Tag in einer zwölf Quadratmeter grossen Zelle zu verbringen – kommt das nicht einer Sanktionierung gleich? Tanno widerspricht: «Es ist keine Disziplinierung, sondern die konsequente Umsetzung einer Regel, damit der Arbeitsbetrieb funktioniert.» Es gehe aber grundsätzlich nicht darum, jemanden zur Arbeit zu zwingen, sondern Struktur und eine sinnstiftende Beschäftigung in den Alltag zu bringen. Gibt es da nicht auch Fälle, die nicht klar geregelt werden können?, wundern wir uns. Fälle, in denen noch kein Zeugnis vorliegt oder unklar ist, ob eine Person arbeiten kann oder will, weil sie vielleicht selbst gerade nicht in der Lage ist, es zu benennen. «Immer mehr eingewiesene Personen bringen physische und psychische Beeinträchtigungen mit, sind durch eine Fluchterfahrung, ein Suchtproblem oder schlicht aufgrund der Inhaftierung belastet und nicht voll leistungsfähig.» Dafür brauche es angepasste Arbeitsplätze, die mehr Spielraum ermöglichen, um sie in den Arbeitsbetrieb einzubinden. «Es gibt Gründe, die sehr verständlich sind. Wenn zum Beispiel ein Gerichtstermin ansteht und eine Person deshalb nicht arbeiten kann, weil es sie belastet, nehmen wir Rücksicht darauf.» Grundsätzlich aber gelte: «Wer nicht arbeitet, bekommt Zelleneinschluss und kein Arbeitsentgelt.» Dass die eingewiesenen Personen Arbeiten erledigen müssen, die sie nicht mögen, auch das gehöre dazu. «Das ist draussen ja auch so.»
Immer wieder wird spürbar, dass Daniela Tanno unserer Reportage skeptisch gegenübersteht. Sie betont, dass es ein Akt des Vertrauens sei, so eingehend mit uns zu sprechen. «Ich habe die Sorge, dass es so wirken könnte, als ob wir einen Schonraum um die eingewiesenen Personen aufgebaut hätten.» Schliesslich werde sie oft mit der Frage konfrontiert, welche Bedingungen für die Inhaftierten gelten. «Die gesellschaftliche Ansicht, dass die Leute im Gefängnis untendurch müssten, ist leider sehr verbreitet. Wir müssen uns zum Teil schon sehr begründen.» Für Tanno besteht die Strafe im Freiheitsentzug, die eingewiesenen Personen müssten im Gefängnis nicht noch einmal bestraft werden. «Wir sind dafür zuständig, dass die Leute draussen wieder einen guten Start haben. Meine Arbeit so zu sehen entlastet mich.»
Im Gespräch mit Daniela Tanno wird ein Dilemma spürbar. Sie ist überzeugt, dass eine Beschäftigung während der Haft sinnvoll ist, dass die Inhaftierten sonst «verlottern». Dabei sei es ihr wichtig, so gut es geht auf individuelle Bedürfnisse einzugehen. Gleichzeitig spürt sie den Druck durch die gesellschaftliche Vorstellung, wie hart ein Haftregime sein muss. In der JVA Grosshof stehe sie zusätzlich vor der Herausforderung, dass verschiedene Haftformen unter einem Dach zusammenkommen. Ein «Gemischtwarenladen» seien sie hier, sagt Tanno, aus Administrativ- und Untersuchungshaft, aus Strafvollzug und stationären Massnahmen. «Das bringt Menschen mit unterschiedlichen, vor allem gesundheitlichen Bedürfnissen zusammen.»
«Die gesellschaftliche Ansicht, dass die Leute im Gefängnis untendurch müssten, ist leider sehr verbreitet. Wir müssen uns zum Teil schon sehr begründen.»Daniela Tanno, Leiterin Bereich Arbeit, Beschäftigung und Bildung in der JVA Grosshof
Den Anschluss nicht verlieren
Wie wichtig die Integration in den Arbeitsbetrieb ist, wird auch während des Rundgangs durch die Arbeitsräume der JVA Grosshof spürbar. Ana Blank, ausgebildete Arbeitsagogin, ist sowohl für die externen Aufträge als auch für die internen, die sogenannten Förderarbeitsplätze, zuständig. In der Küche, im Hausdienst und in der Wäscherei fällt viel Arbeit an und es sei nicht immer leicht, geeignete Personen für die zum Teil verantwortungsvollen Aufgaben zu finden. Denn wie Daniela Tanno betont auch Blank, dass viele Inhaftierte körperlich und seelisch angeschlagen und wenig belastbar seien. Der erste Arbeitsraum, durch den sie uns führt, gehört zur sogenannten Integrationsabteilung. Hier werden einfachere Arbeiten ohne grossen zeitlichen Druck ausgeführt. Trotzdem herrscht konzentrierte Stille, während die Inhaftierten die Broschüre einer Luzerner Kulturveranstaltung zusammenstellen. Diese konzentrierte Stille wird durch unseren Besuch unterbrochen: Die meisten wollen ihren Arbeitsplatz während unserer Anwesenheit verlassen. In diesem Raum wird deutlich, dass kreative Tätigkeiten dazu da sein können, um den Einstieg in den Arbeitsbetrieb der JVA zu ermöglichen. Vor einem Regal mit Zeichnungen und selbstgemachten Dekorationsstücken erklärt Blank: «Es gibt kein allgemeingültiges Rezept, wie wir die Leute zum Arbeiten bringen. Wenn sie lange in Einzelhaft waren, dann braucht es etwas mehr Zeit, um sie wieder an soziale Kontakte zu gewöhnen.»
Im nächsten Arbeitsraum treffen wir eine Gruppe von Inhaftierten in weissen Anzügen und Hauben, die Hygieneartikel verpacken. Es sind einfache, repetitive Arbeitsschritte. Nicht unbedingt der Inbegriff einer sinnstiftenden Beschäftigung, denken wir. «Damit die JVA Grosshof Arbeit überhaupt anbieten kann, sind wir auf Aufträge von Unternehmen angewiesen», sagt Ana Blank. «Aktuell haben wir zum Glück genug Arbeit. Wir müssen keine Arbeitsplätze schliessen.» Doch eine solche Ausgangslage, das sei nicht selbstverständlich. «Die Institution, die am schnellsten und am günstigsten produzieren kann, bekommt den Zuschlag. Wir haben immer mehr zu kämpfen, vor allem, weil viele Aufträge maschinell erledigt oder ins Ausland vergeben werden.» Damit spricht Blank den Wettbewerb mit anderen Institutionen an, die ebenfalls im sogenannten «zweiten Arbeitsmarkt» angesiedelt sind.
Die Idee hinter der Zusammenarbeit mit externen Unternehmen bestehe darin, so Ana Blank, mit dem Verdienst das Arbeitsentgelt der Inhaftierten zu finanzieren. Dass die Konfektionierungs- und Verpackungsarbeit dennoch nicht von allen Inhaftierten als «sinnstiftend » angesehen wird, ist Blank bewusst. «Wir holen die Leute ab und versuchen sie immer wieder dazu zu bringen, in den Arbeitsprozess reinzukommen, ihnen die Vorteile aufzuzeigen», fährt Blank fort, die auf unserem Rundgang kaum einen Raum betreten kann, ohne in ein kurzes Gespräch verwickelt zu werden. «Wir versuchen, die Leute nicht zu disziplinieren, sondern mit ihnen zu reden.» Disziplinarmassnahmen sind gesetzlich geregelt und in den Hausordnungen der jeweiligen Anstalten festgelegt. «Jedes Haus hat seine eigene Kultur», sagt Blank. «Als Beispiel: Die eingewiesenen Personen dürfen nichts aus den Arbeitsräumen entwenden. Wenn sie es doch tun, kann man das als Diebstahl sehen und sie sanktionieren. Das entspricht nicht unserer Kultur. Wir ziehen es vor, auf sie zuzugehen. Ich glaube, das bringt viel mehr.»
Auf die Frage, welche Arbeitsmöglichkeiten sie sich wünschen würde, antwortet Ana Blank: «Einen Gemüsegarten, damit die Leute draussen arbeiten könnten. Und abwechslungsreichere Arbeit, zum Beispiel eine Zelle renovieren oder neu streichen.» Der Arbeitsagoge Rafael Fischer, mit dem wir ebenfalls ins Gespräch kommen, wünscht sich vor allem mehr Eigenprodukte. «Mein Traum wäre ein eigener Laden vorne in der Stadt. Leute mit einer Kurzstrafe, von denen es bei uns viele gibt, könnten ihn bewirtschaften, damit sie Teil der Gesellschaft bleiben und den Anschluss nicht verlieren.»
Ana Blank hat auch eine Frage an uns: «Ihr sagt, es geht euch um die unsichtbare Arbeit im Gefängnis. Meint ihr damit auch unsere? Ich finde es wichtig zu zeigen, was unsere Arbeit für die eingewiesenen Personen bedeutet. » Auch Rafael Fischer spricht ausserhalb des Gefängnisses häufig über seine Arbeit. Dabei sei die Frage nach einer gerechten Bestrafung oft ein emotionales Thema. «Wenn du zwanzig Leute danach fragst, bekommst du zwanzig verschiedene Antworten. Ich wurde auch schon gefragt, ob die eingewiesenen Personen es überhaupt verdient haben zu arbeiten.»
Das andere Dilemma
Nach unserem Besuch in Kriens ist uns klar: Hier hat Arbeit einen hohen Stellenwert. Sie ermöglicht eine Menklare Tagesstruktur und sorgt dafür, dass Inhaftierte «Teil der Gesellschaft bleiben». Dem stimmt auch Livia Schmid zu, die wir nach unserem Besuch treffen. Die Anwältin und Juristin leitet seit 2023 die Beratungsstelle Freiheitsentzug bei der NGO humanrights.ch. «Ich würde nicht infrage stellen, dass Arbeit resozialisierend wirken kann. Sie gibt eine gewisse Struktur, lenkt ab.» Dennoch bleibt für uns die Frage: Wo liegt die Grenze zwischen Arbeitspflicht und Arbeitszwang? Schmid präzisiert: «Die internationalen Konventionen nehmen Arbeit in Gefängnissen explizit von der Zwangsarbeit aus.» Damit bezieht sie sich auf den Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Konvention 29 der International Labour Organization (ILO). «Aus juristischer Sicht wäre mir nicht bekannt, dass es Zwangsarbeit in Schweizer Gefängnissen gibt.» Dennoch bekäme sie häufig Anfragen, bei denen die gesundheitlichen Probleme einer Person, etwa Kopf- oder Rückenschmerzen, nicht berücksichtigt würden. «Es gibt Anstalten, welche die Arbeitspflicht mehr oder weniger rigoros durchsetzen.» Mögliche Disziplinierungsmassnahmen seien neben dem Einschluss in der Zelle der sogenannte «Bunker», in dem Inhaftierte bis zu zwei Wochen isoliert werden. Es könne auch sein, so Schmid, dass das Fernsehgerät oder das Radio entzogen werde, die Inhaftierten also mit Schikanen zu rechnen hätten. «Für uns ist es schwierig, das Spannungsfeld einzuschätzen. Zum einen gibt es die gesetzliche Vorgabe, zum anderen das Befinden der Person.» Dabei spiele auch die Art der Arbeit, die verrichtet werden muss, eine Rolle. «Die International Labour Organization bezeichnet es als grosses Dilemma: Arbeit kann eine positive Auswirkung auf Inhaftierte haben, indem diese eine Tagesstruktur bekommen oder Fähigkeiten erlernen. Allerdings müssen die Inhaftierten immer wieder Arbeiten verrichten, die langweilig sind, bei denen man sich fragen kann, inwiefern sie ‹sinnstiftend› oder gar ‹resozialisierend› wirken.»
Während unseres Gesprächs betont Livia Schmid, dass Anstalten immer wieder unter finanziellem Druck stünden. «Zum einen müssen sie möglichst sinnvolle Beschäftigung anbieten und gleichzeitig möglichst wenig Ausgaben für den Kanton generieren.» Je höher der Spardruck, desto grösser sei die Gefahr, dass die Finanzierung durch externe Unternehmen kompensiert werde. Vor allem im angelsächsischen Raum werden aus diesem Grund Gefängnisse von Privatunternehmen betrieben. «Bei Aufträgen von externen Unternehmen besteht die latente Gefahr der privaten Profitmaximierung. Ich weiss allerdings nicht, ob das in der Schweiz vorliegt.» Im Zuge dessen spricht Schmid die mangelnde Transparenz im Hinblick auf die Leistungsvereinbarungen zwischen Justizvollzugsanstalten und Unternehmen an. Erstere sind Teil der öffentlichen Verwaltung. Es wäre wünschenswert, dass diese Verträge einsehbar sind. Das sogenannte Öffentlichkeitsprinzip, welches dies vorsieht, wurde im Kanton Luzern bis heute nicht eingeführt, war aber immerhin in der Vernehmlassung.
Fünf Franken Stundenlohn
Teil der Arbeitsbedingungen im Strafvollzug ist auch das Arbeitsentgelt. «Man sollte sich überlegen, ob Inhaftierte einen höheren Lohn bräuchten, um sich resozialisieren zu können», merkt Livia Schmid an. Viele seien verschuldet oder müssten Unterhaltszahlungen leisten, bei manchen kämen Wiedergutmachungszahlungen dazu. «Wer aus dem Gefängnis kommt und vor einem Schuldenberg steht, beginnt eher wieder zu delinquieren.» In diesem Zusammenhang erwähnt Schmid ein wegweisendes Urteil, das im Juni 2023 vom Bundesverfassungsgericht in Deutschland gefällt wurde, nachdem zwei Inhaftierte aus Bayern und Nordrhein-Westfalen geklagt hatten. Es besagt, dass die bisherige Entlöhnung von 1,37 bis 2,30 Euro pro Stunde nicht geeignet sei, um das «gesetzliche Konzept der Resozialisierung » zu erfüllen. Das Bundesverfassungsgericht vertrat die Ansicht, dass «Gefangenenarbeit», die finanziell entgolten wird, zur Resozialisierung nur beitragen kann, «wenn den Gefangenen durch die Höhe des ihnen zukommenden Entgelts in einem Mindestmass bewusst gemacht werden kann, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist.» Dem schliesst sich Schmid an. «Ich fände es sinnvoll, auch in der Schweiz über eine faire Entlöhnung zu diskutieren.» Wir versuchen das konkret in Bezug auf die JVA Grosshof durchzurechnen. Ein Arbeitstag dauert sechs Stunden, was bei einem Arbeitsentgelt von 30 Franken pro Tag einem Stundenlohn von fünf Franken entspricht. Arbeitet eine inhaftierte Person ein Jahr lang jeden Tag, ergibt das auf 260 Arbeitstage 7800 Franken. Davon gibt es nochmals Abzüge (27 Prozent für allfällige Gesundheitskosten, 3 Prozent für Wiedergutmachungszahlungen). Während die Inhaftierten über 60 Prozent vom Arbeitsentgelt frei verfügen können, kommen 10 Prozent auf ein Sparkonto, worauf sie erst nach der Entlassung zugreifen können. In dieser Rechnung also 780 Franken. Bietet dieser Beitrag tatsächlich eine Perspektive nach der Haft?
Eine «Win-Win-Situation»
Mittlerweile ist Frühling und das Gefängnis hat uns den Kontakt zu einem Unternehmen vermittelt, das in der JVA Grosshof produzieren lässt. Die meisten Auftraggeber: innen der JVA achten darauf, anonym zu bleiben. Fotografien von ihren Produkten dürfen nicht abgedruckt werden. Das Gegenteil ist bei Fidea Design der Fall. Das Luzerner Unternehmen erwähnt die JVA Grosshof sogar auf der eigenen Website: «Diese Zusammenarbeit ist für uns sehr wichtig, um für Menklare schen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt sinnvolle Arbeit zu generieren. Die Energie und Lebensfreude, welche wir bei unseren Produzenten erleben, ist das, was Fidea ausmacht: Herz und Leidenschaft. » Das Unternehmen vertreibt hauptsächlich Schweizer Design- und Papeterieprodukte aus lokaler Produktion. Für die JVA Grosshof ist es ein wichtiger Auftraggeber, denn: Produkte müssen verpackt, zusammengestellt oder -geklebt werden. Sogar ein Kartonstuhl wird in der Anstalt zusammengesteckt, bevor er an die jeweiligen Kund:innen geliefert wird. Die Gründerin und Co-Geschäftsführerin Franziska Bründler erzählt uns im Videocall, welche Aufträge sie an die JVA Grosshof vergibt. «Intensive Fleissarbeit, die in einer kurzen Zeit erledigt werden muss, die für andere soziale Institutionen nicht geeignet wäre. Sie haben fast immer Kapazität und können schnell, genau und zuverlässig arbeiten.» Die Unternehmerin, die am Institut für Arbeitsagogik in Luzern unterrichtet, lässt die meisten Produkte in sozialen Einrichtungen produzieren. Und das aus Überzeugung: «Ich sehe, dass Arbeit eine Struktur gibt, egal wem. Das ist wichtig, um im Gefängnis und vielleicht sogar in der Gesellschaft wieder Fuss zu fassen.» Das sei das Prinzip, das hinter der Zusammenarbeit mit den verschiedenen sozialen Institutionen stehe, zum Beispiel mit dem Blickfeld in Horw, der IG Arbeit in Luzern oder der Stiftung Brändi in Kriens. «Wir werden häufig von sozialen Institutionen angefragt, ob sie für uns produzieren können. Das ist vor allem bei neuen Institutionen der Fall», erklärt Bründler. Im Vergleich zu den anderen Partner:innen sei die Zusammenarbeit mit der JVA Grosshof aber besonders. «Im Grosshof sind sie sehr schnell und effizient. Wir lassen im August 50 000 Weihnachtskarten produzieren und Anfang Oktober müssen wir ausliefern. Wer macht das sonst in dem Tempo? Mit Leuten mit körperlicher Beeinträchtigung wäre das nicht möglich.»
Wir erkundigen uns nach den Margen und möchten wissen, wie die Preisverhandlung mit den jeweiligen Institutionen abläuft. «Es wird nicht wirklich verhandelt. Sie nennen einen Preis und den versuchen wir zu akzeptieren. » Das sei nicht immer einfach, da die Margen auf dem Markt ohnehin sehr schmal seien und es abgesehen von sozialen Institutionen auch niemanden gebe, der Dienstleistungen wie Konfektionierungs- und Verpackungsarbeit in der Schweiz anbiete. Trotzdem: «Es ist toll, dass soziale Institutionen froh um die Arbeit sind und wir jemanden haben, an den wir sie vergeben können. Sonst würde die Arbeit allenfalls im Ausland landen. Es ist eine Win-Win-Situation.» Von grossem Profit könne dabei keine Rede sein: «Der Kunde will in der aktuellen wirtschaftlichen Situation zwar, dass alles nachhaltig und in der Schweiz produziert wird, aber es sollte trotzdem günstig sein. Da wird man definitiv nicht reich.»
Zwischen den Welten
Nun ist Anfang März, die Luft wärmer, die Tage sind wieder länger. Wir blicken auf den Flyer der JVA Grosshof, mit dem für uns alles begann: Montage, Verpackung, Mailing, Versand – all das und noch mehr kann der Arbeitsbetrieb in der JVA Grosshof leisten. Diese Arbeit soll den Inhaftierten dabei helfen, drinnen und später auch draussen nach der Haft wieder klarzukommen. Die Aussage «Im Gefängnis ist jeden Tag Homeoffice » von Daniela Tanno erscheint plötzlich bezeichnend für den Versuch der Arbeitsagog:innen, ein Stück Normalität in ein System zu bringen, das auf Zwang und Repression beruht. Es scheint einleuchtend, dass Inhaftierte durch ihre Arbeit eine Tagesstruktur und ein Arbeitsentgelt erhalten, das sie für ihren Unterhalt einsetzen können. Ebenso, dass in einer Gesellschaft, in der produktive Arbeit einen hohen Stellenwert hat, das auch in deren Gefängnissen so sein muss. Ob diese Arbeit tatsächlich dabei hilft, nach der Strafe wieder Anschluss zu finden, wissen wir nicht. Was wir wissen, ist, dass Inhaftierte vor allem Arbeiten verrichten, die es auf dem «ersten Arbeitsmarkt» so nicht gibt.
Die Kluft, die zwischen den Welten «drinnen» und «draussen» klafft, scheint trotz aller Bemühungen sehr weit zu sein. Obwohl der Arbeit der Inhaftierten innerhalb der JVA Grosshof ein hoher Stellenwert zugeschrieben wird, ist sie in der Welt draussen deutlich weniger wert. Das hat mit dem geringen Arbeitsentgelt zu tun, das höher sein müsste, um über den Freiheitsentzug hinaus den Prozess der Resozialisierung zu begünstigen. Aber noch viel weiter scheint die Kluft, was die ideelle Wertschätzung dieser Arbeit angeht. Die Bemühung um Resozialisierung durch Arbeit ist wohl kaum aussichtsreich angesichts des gesellschaftlichen Stigmas, das Inhaftierten anhaftet. Wir erinnern uns: Der Arbeitsagoge Rafael Fischer wurde gefragt, ob es Inhaftierte überhaupt verdient hätten zu arbeiten. Seine Vorgesetzte Daniela Tanno befürchtet, die Leute könnten denken, man müsse nicht genug «untendurch» bei ihr im Grosshof. Die meisten Unternehmen, die in dieser Anstalt produzieren lassen, wollen nicht öffentlich damit in Verbindung gebracht werden. Wer im Gefängnis sitzt, ist schliesslich «selbst schuld».
Die wirklichen Probleme der Gefängnisarbeit, denken wir, liegen nicht innerhalb der Gefängnismauern, sondern ausserhalb.